Ohne öffentliche Information und Diskussion wird die Einführung eines bundesweiten Bildungsverlaufsregisters politisch vorbereitet und vorangetrieben. Was bedeutet diese neue Datenstrategie und welchen Mehrwert für Bildung bringt sie?
Aussagen im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Bundesregierung verdeutlichen, dass der Bund nicht nur ein Interesse an dem Vorhaben hat, sondern auch ein „Treiber“ ist. CDU und SPD wollen „gemeinsam mit den Ländern für die nächste Dekade relevante und messbare Bildungsziele vereinbaren und eine datengestützte Schulentwicklung und das Bildungsverlaufsregister schaffen“. Dazu gehört auch „die Einführung einer zwischen den Ländern kompatiblen, datenschutzkonformen Schüler-ID“.
Karin Prien, die neue Bundesbildungsministerin, hat in ihrer Rolle als ehemalige Kultusministerin von Schleswig-Holstein zusammen mit ihren Amtskolleginnen aus Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz in einer Publikation der Wübben-Stiftung („Bessere Bildung 2035“) bereits 2024 dafür geworben.
Bildungsverlaufsregister und Schüler-ID
Die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder haben dazu schon „ein Zielbild“ für ein Bildungsverlaufsregister im Verbund entworfen. Es soll eine bundesweite digitale Datenbasis geschaffen werden, die anonymisierte Individualdaten über Bildungs- und Lernverläufe zur Analyse und Steuerung für Politik, Verwaltung und Wissenschaft in einem hochkomplexen rechtlichen und technischen Verfahren bereitstellt. Mit der Einführung einer internen Schüler-ID, die jeder und jedem Lernenden als einmalige Identifikationsnummer zugeordnet wird, soll sichergestellt werden, dass keine Personenbezüge aus den Daten abgeleitet werden können.
Für eine Umsetzung ist neben der gesetzlichen Einführung einer Schüler-ID auch die flächendeckende und länderübergreifende Umstellung der Schulstatistik von Summen- auf Individualdaten notwendig. Sie wurde zwar schon 2003 für einen Kerndatensatz (KDS) von der Kultusministerkonferenz beschlossen, ist aber bis heute noch nicht von allen Bundesländern umgesetzt worden.
Ausgestaltung
Die Erfassung des Schulverlaufs mit der Schüler-ID ist eher als Einstieg in ein allumfassendes Datenprogramm zu verstehen. Gefordert wird von den Befürworter:innen eine Bildungs-ID, die alle Bildungsphasen von der frühkindlichen Bildung bis mindestens zum Berufsbildungs- oder Hochschulabschluss erfasst.
Besonders intensiv diskutiert wird die Frage, welche Daten individuell erhoben und in das Register aufgenommen werden. So fordert bspw. der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten eine Umsetzung, die nicht nur Übergänge und Abschlüsse „datenschutzkonform und forschungsfreundlich“ dokumentiert. Auch die Berücksichtigung von Noten und Daten aus regelmäßigen standardisierten Kompetenzmessungen hält er für unerlässlich. Nach dem Vorbild anderer europäischer Staaten sollen die Daten mit anderen Registern und auch mit anderen Forschungsdaten „verknüpfbar“ sein, lautet der Appell an die Politik: „Das Bildungsverlaufsregister darf kein Datensilo werden.“
Die Bundesbildungsministerin betont ihrerseits die Bedeutung der Dokumentation von in Anspruch genommenen Hilfs- und Unterstützungsangeboten für die Begleitung der Übergänge im Bildungssystem.
Begründungen
Das Wissen über Bildungsverläufe und Bildungserträge sei in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gering – das erschwere die strategische Beobachtung und zielgerichtete Steuerung des Bildungssystems, argumentiert der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten.
Aus seiner Sicht ist die Verfügbarkeit von Bildungsdaten in Deutschland durch die internationalen Bildungsvergleichsstudien, die Querschnitte der IQB-Bildungstrends und das Nationale Bildungspanel (NEPS) mit seinen Längsschnittdaten für ausgewählte Kohorten zwar erheblich verbessert worden. Die große Lücke an umfassenden längsschnittlichen Daten könne damit aber nicht abgedeckt werden. Erst Daten im Längsschnitt erlaubten es, Übergänge im Bildungssystem und schließlich auch vom Bildungssystem in den Arbeitsmarkt zu analysieren. Zudem ermöglichten Registerdaten regional differenzierte Analysen und die Beschreibung sozialer Kontexte. In diesen Analysen stecke ein großer Mehrwert für die Wissenschaft, Politik und die Gesellschaft.
Deutschland müsse sich für „bessere Bildung“ am Beispiel des kanadischen Bildungssystems ausrichten, das hohe Leistungserträge, Chancengleichheit und Wohlbefinden der Lernenden als strategische Bildungsziele erfolgreich miteinander verbindet – so lautet die Begründung der Wübben-Stiftung für eine datengestützte Lernverlaufsstrategie. Auch Prof. Anne Sliwka wirbt für den kanadischen Weg. Als erfolgreich erweise sich, dass dort in regelmäßigen Zyklen individuelle Daten über Schulleistungen und Wohlbefinden der Schüler:innen erhoben werden, die auf und zwischen allen Ebenen des Bildungssystems (Unterricht, Schule, Verwaltung, Politik) kommuniziert werden. Sie dienten als Ausgangspunkt für professionelle, vertrauensvolle Dialoge über Ziele, Zielvereinbarungen und Wirksamkeit der Maßnahmen.
In einer aktuellen Veröffentlichung der Bertelsmann Stiftung („Empfehlungen für eine veränderte Lern- und Prüfungskultur“) stellt ein Expertenteam die Vorzüge der individuellen Lernbegleitung gegenüber dem bestehenden starren Instrumentarium der Lern- und Prüfungsordnung mit Noten und Versetzungsregelungen heraus. Die Wissenschaftler:innen werben in diesem Zusammenhang eindringlich für die Erhebung von Individualdaten im Lernverlauf und eine darauf basierende „konsequent datengestützte Steuerung auf allen Ebenen des Systems“.
Um die „Gelegenheit zum Erwerb eines Bildungsminimums“ staatlich zu garantieren und zur „maximalen Potenzialentfaltung“ anzuleiten, bräuchte es „hochwertige Daten für die individuelle Diagnostik und Förderung qualitativ hochwertiger individualdiagnostischer Instrumente, die Lernverläufe, aber auch unausgeschöpfte Potenziale anzeigen können“.
Den Schulen wird für die Entwicklung von individueller Lernbegleitung die Lernverlaufsdiagnostik als geeignetes Instrument empfohlen, das ihnen ein „lernbegleitendes Feedback zu bereits Erreichtem ebenso wie noch zu Lernendem“ an die Hand gebe und zudem die Weiterentwicklung der „Organisation von Lern- und Prüfungssettings jenseits bestehender Grenzen flexibel und adaptiv“ ermögliche.
Datenschutzrechtliche Bedenken
Ob diese Argumentationen in Gesetzgebungsverfahren vor dem Datenschutz bestehen können, muss sich erst noch erweisen. Auf Anfrage hieß es von der Pressestelle der Landesdatenschutzbeauftragten in NRW: „Soweit es um die datenschutzrechtliche und -technische Zulässigkeit der Einführung eines bundesweiten Bildungsverlaufsregisters geht, sehen wir dies kritisch. Ein solches Register kann zu einer Erfassung von ganzen Bildungskarrieren über teilweise deutlich mehr als ein Jahrzehnt führen. Wesentlich bei der Bewertung dürfte deshalb sein, ob die Einführung des Registers überhaupt den hohen Hürden der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit einer solchen Datenverarbeitung entsprechen würde.“
Datenhunger auch in NRW
Der Druck aus der Wissenschaft, den Weg einer datengestützten Bildungsverlaufsstrategie einzuschlagen, hat angesichts der schlechten Schulleistungsergebnisse auch in NRW seine Wirkung gezeigt. Dorothee Feller, Schulministerin von NRW, hat unmittelbar vor den Sommerferien die schrittweise Einführung zusätzlicher Lernstandserhebungen in Klasse 2, 5 und 7 angekündigt. Sie sollen die bestehenden standardisierten Tests in Klasse 3 (VERA 3) und Klasse 8 (VERA 8) ergänzen, Damit sollen Lehrkräfte in die Lage versetzt werden, die Schüler:innen „noch passgenauer zu fördern“. Beratung und Unterstützung soll die Schulaufsicht leisten, die auf der Basis der Daten einmal jährlich Zielvereinbarungsgespräche mit den Schulen führt.
Zum kommenden Schuljahr 2025/26 soll erstmals zur Entlastung der Lehrkräfte allen Grundschulen ein digitales Screening-Verfahren zur Verfügung gestellt werden, „um die Lernstände der angehenden Erstklässlerinnen und Erstklässler schon bei der Schulanmeldung zu erfassen und eine passgenaue Förderung in die Wege zu leiten“. Hier reagiert die Schulministerin auch auf die Forderung der Sonderpädagogik, mit regelmäßigen Screenings die Lernausgangslagen der Grundschüler:innen für die gezielte präventive bzw. sonderpädagogische Förderung zu erfassen.
Bildungsdaten im Kontext des selektiven Schulsystems
Aber: Deutschland ist nicht Kanada! Anders als das kanadische ist das deutsche Schulsystem hochselektiv bezogen auf Leistung und Herkunft. Auch das Wohlbefinden von Schüler:innen ist bis heute nicht als Qualitätskriterium in den Curricula verankert. Es sortiert, statt zu fördern, wie Joachim Lohmann in seiner Auswertung der PISA-Daten von 2022 herausgearbeitet und zutreffend formuliert hat.
Es verlangt keine hellseherischen Fähigkeiten für die vorausschauende Annahme: Solange wie die Bildungspolitik an der frühen Selektion und Aufteilung auf unterschiedliche weiterführende Schulformen und Förderschulen festhält, werden individuelle Bildungs- und Lernverlaufsdaten als Mittel für „passgenaues Sortieren“ im Rahmen präventiver, evidenz- und datengestützter Vermessungsstrategien genutzt. Die passende Vorlage dafür hat die Sonderpädagogik in dem Gutachten zur steigenden Anzahl von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf geliefert.
In NRW wird das neue Screening und die Ausweitung der standardisierten Lernstandsmessung in den Grundschulen ergänzend zu den bestehenden Notenzeugnissen, Versetzungsregelungen, sonderpädagogischen Feststellungsverfahren und Schulformempfehlungen am Ende von Klasse 4 eingeführt. Zusammen verstärken diese Maßnahmen den leistungsbezogenen Anpassungs- und Selektionsdruck an vorgegebene Strukturen und Kompetenzerwartungen auf Schüler:innen und Lehrkräfte.
Damit kommt auch die inklusive Perspektive vollends „unter die Räder“, wenn Kinder einseitig an Vorgaben des Systems gemessen werden, während im Sinne der Inklusion doch die Anpassung des Systems an die Heterogenität der Kinder und an ihre individuelle Lernentwicklung das Ziel sein sollte.
In einem arbeitswissenschaftlichen Gutachten (2020) hat das Bremer Institut für Interdisziplinäre Schulforschung (ISF) im Auftrag des Grundschulverbandes darauf aufmerksam gemacht, dass Noten und standardisierte Leistungsmessungen von Grundschullehrkräften besonders belastend erlebt werden. Der entwicklungsbezogene Kompetenzbegriff der Grundschulpädagogik stehe in einem krassen Spannungsverhältnis zu dem einseitig am Ertrag orientierten bildungspolitisch verordneten Kompetenzbegriff. Das Gutachten empfiehlt die Abschaffung der Notengebung und des Zwangs zur standardisierten Leistungseinordnung, wertschätzende Formen der Lern- und Leistungsdokumentation und das Ende der frühen Aufteilung nach Klasse 4.
Beispiele für Daten ohne Taten
Gegen die naive Vorstellung, dass mit der datengestützten Bildungsverlaufsstrategie die Leistungsergebnisse besser und die Bildungsungleichheit geringer wird, hilft ein Blick in die Realität. Es gibt genügend Beispiele dafür, dass trotz vorhandener wissenschaftlicher Erkenntnisse und Daten die entsprechenden bildungspolitischen Konsequenzen ausgeblieben sind und/oder bis heute verweigert werden.
Das zentrale Beispiel ist die Verweigerung der Bildungspolitik, die Auswertung der Daten von PISA 2000 zur Kenntnis zu nehmen und in adäquates Handeln umzusetzen. Die OECD-Studie zeigt, dass die enge Kopplung von Lernerfolg und sozialer Herkunft an die frühe Selektion im gegliederten Schulsystem gebunden ist. Deshalb hätten schulstrukturelle Merkmale in der Diskussion um Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit fokussiert werden müssen, wie Prof. Klaus-Jürgen Tillmann in seinem Vortrag „Viel Selektion- wenig Leistung“ (2004) kritisch angemerkt hat. Die Handlungsempfehlungen der KMK auf den sogenannten „PISA-Schock“ gingen jedoch in andere Richtungen.
Für das Förderschulsystem ist wissenschaftlich erwiesen, dass es seine Schüler.innen bildungsarm und perspektivlos in die Gesellschaft entlässt. Dennoch wird es nicht nur erhalten, sondern gegen menschenrechtliche Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention sogar ausgebaut, wie Prof. Hans Wocken in seinem Vortrag auf dem Inklusionsforschungskongress in Köln 2025 dargelegt hat.
Die Zukunft der Bildung: Datafizierung?
Unter dem Buchtitel „Datafizierung (in) der Bildung“ (2024) haben sich Expert: innen aus (Medien-)Pädagogik und Informatik mit Datenproduktion und -konsum und damit verbundenen Vermessungspraktiken im Bildungsbereich auseinandergesetzt und die Risiken ausgelotet.
Um der Normalisierung von Datafizierung im Bildungssystem entgegenzuwirken, die Schulen in letzter Konsequenz zu Datenfabriken und Schüler:innen zu angepassten Objekten von Steuerung, Optimierung und Überwachung macht, muss aus Sicht von Kritiker:innen wie Prof. Karen Joisten die Frage geklärt werden: „Was wollen wir, was Bildung sein soll?“ Diese Klärung verlangt auch aus meiner Sicht nach einem breiten gesellschaftlichen Diskurs.
Dr. Brigitte Schumann 08/2025