von Brigitte Schumann                       04/2021

Im Zentrum des Masterplans steht die Implementierung neuer Lehrpläne, die das fachliche Lernen in Deutsch und Mathematik stärken und die Kernkompetenzen verbessern sollen. Damit reagiert das Schulministerium auf enttäuschende Ergebnisse aus Grundschulstudien.

Laut der jüngsten internationalen Grundschulstudie IGLU sind viele Länder inzwischen im Ranking an Deutschland vorbeigezogen. Die letzte nationale Grundschulstudie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) von 2016 hat deutlich gemacht, dass die Leistungsentwicklung von Viertklässlern sich gegenüber der ersten Länderuntersuchung 2011 nicht verbessern konnte. In fast allen Bundesländern wurden sogar signifikante Verschlechterungen festgestellt.   

Die Ergebnisse für NRW sind im Ländervergleich besonders ernüchternd ausgefallen. Bei den erreichten Kompetenzen in Deutsch und Mathematik lag NRW weit unter dem Bundesdurchschnitt und musste sich in einigen Kompetenzbereichen mit Bremen und Berlin die letzten Plätze teilen. Bezogen auf den Anteil der Schülerinnen und Schüler, die den Mindeststandard in Deutsch und in Mathematik nicht erbringen konnten, fielen die Entwicklungen in NRW gegenüber 2011 besonders ungünstig aus. In Mathematik erreichten ca. 20 % der Schülerinnen und Schüler nicht den Mindeststandard.

Keine gesellschaftliche und bildungspolitische Bestandsaufnahme

Auf die Frage, warum sich die Schülerleistungen in den nordrhein-westfälischen Grundschulen verschlechtert haben, geht der Masterplan nicht ein. Es fehlt  eine gründliche und schonungslose Bestandsaufnahme.

Das krasse Missverhältnis zwischen den völlig unzureichenden Rahmenbedingungen und den wachsenden pädagogischen und sozialen Herausforderungen, unter denen Grundschulen arbeiten müssen, wird nicht offengelegt. Die Armutsentwicklung, die die Landesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtsverbände als „besorgniserregend“ bezeichnet, wird im Masterplan mit keinem Wort erwähnt. Kinderarmut findet in NRW nicht statt. Dabei sind Anstieg, regionale und kleinräumige Verbreitung sowie Folgen der Kinderarmut vom Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung (ZEFIR) an der Ruhruniversität Bochum differenziert und gründlich erforscht worden. Der Zusammenhang zwischen Kinderarmut und Bildungsarmut wird von den bildungspolitisch Verantwortlichen schlichtweg ignoriert.       

Auch die Auswirkungen der Zuwanderung auf die Arbeit der Grundschulen werden nicht gründlich analysiert. Die Inklusion wird als „Hypothek“ behandelt, die man von der Vorgängerregierung geerbt hat und die man jetzt unter den Bedingungen des Lehrermangels abtragen muss. Dabei ist die derzeitige Bildungspolitik mit ihrer intensiven Bestandspflege kleinster Sonderschulen, dem völkerrechtswidrigen Festhalten an dem Sonderschulsystem als Parallelsystem zum Gemeinsamen Lernen und dem Anstieg des Anteils von Kindern in Sonderschulen an dem Mangel an sonderpädagogischem Personal in den Grundschulen erheblich beteiligt.

Unterfinanzierung, Kinderarmut, Armutssegregation  

Gerd Möller, Ltd. Ministerialrat a.D.im Schulministerium von NRW, hat die Entwicklung der Bildungsausgaben in NRW als chronische Unterfinanzierung bezeichnet. Nach seiner Recherche gehört NRW neben Bremen und Schleswig-Holstein zu den Ländern mit den geringsten Steigerungsraten und belegt seit 2008 bei den Ausgaben je Schüler den letzten Platz unter den 16 Bundesländern. Bei den Ausgaben je Schüler in der Grundschule liegt NRW 2017 nur bei 5400 Euro und gibt damit gegenüber dem Bundesdurchschnitt 1000 Euro weniger aus. Hohe Klassengrößen und geringere Schülerwochenstunden sind die Folgen.

Dass sich an der Unterfinanzierung der Grundschulen in NRW trotz des Anstiegs von Armutsrisikoquoten bei Kindern, die deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegen, nichts geändert hat, ist skandalös. Zudem zeichnet sich in Großstädten die Verräumlichung sozialer Ungleichheit mit negativen Folgen für Quartiere und Grundschulen scharf ab. Diese Entwicklung ist im Ruhrgebiet besonders stark ausgeprägt und führt dazu, dass 31,3 % der Grundschulen als extrem armutssegregiert gelten, wie der Bildungsbericht Ruhr 2020 ausweist. Erschwerend kommt hinzu, dass mit der Aufhebung der Schuleinzugsbezirke die sozial selektive Elternwahl die  vorhandene soziale Segregation verschärft hat.

Trotz vieler Lippenbekenntnisse seitens der rot-grünen Vorgängerregierung und der derzeitigen schwarz-gelben Landesregierung fehlt immer noch die Umsetzung eines schulscharfen Sozialindexes für Grundschulen, der die Bildungsfinanzierung nach dem Unterstützungsbedarf der jeweiligen Schulen angemessen regelt. Dabei hat ZEFIR ein wirksames, evaluiertes Instrumentarium für eine gerechte Ressourcensteuerung schon 2016 vorgestellt. Fadenscheinige datenrechtliche Einwände werden bis heute gegen die Umsetzung vorgebracht. Die vom Schulministerium jüngst vorgelegten Planungen für eine Indexberechnung sind eindeutig von dem Interesse geleitet, den realen Anteil der belasteten Schulen möglichst kleinzurechnen.

Eklatante Verstöße gegen Grundschulpädagogik   

Die Bildungsforschung hat kritisiert, dass ohne die intensive Vermittlung von Basiskompetenzen die Grundschule Kinder aus Armutsverhältnissen benachteiligt und „soziokulturelle Klassenverhältnisse“ reproduziert. Sie begünstigt Kinder aus privilegierten Verhältnissen, da diese die kognitiven und motivationalen Strategien und Dispositionen schon mitbringen, die für schulisches Lernen vorausgesetzt werden.  

Daran knüpft die GEW in ihrer Stellungnahme an, wenn sie kritisch herausstellt, dass der Masterplan mit seiner „Stärkung der Fachlichkeit“ die „Stärkung der Kinder“ verfehlt. Statt die basalen Fähigkeiten stärker zu fördern, ohne die erfolgreiches Lernen in der Grundschule nicht gelingen kann, würden fachliche Ziele und Kompetenzen in Deutsch und Mathematik schon in der Schuleingangsphase in den Fokus gerückt.

Der Grundschulverband hat sich in seinen „Anforderungen an eine zukunftsfähige Grundschule“ ganz grundsätzlich und unabhängig von den Planungen in NRW positioniert. Die Grundschule dürfe nicht auf Stoffvermittlung und die Beherrschung von Kulturtechniken reduziert werden. Der Verband versteht Lernen als „Selbstaneignung der Welt“. „Bildung entsteht aus der bewussten Begegnung mit der Welt, die sich aus der aktiven Auseinandersetzung mit Lerngegenständen ergibt, keineswegs aber durch die Reduktion der Lernangebote auf in Tests abfragbares Wissen und Können.“ Die Auswahl der Lerngegenstände dürfe nicht von Erwägungen der Nützlichkeit oder ökonomischer Verwertbarkeit bestimmt sein. „Lesen, Schreiben, Rechnen und auch der Umgang mit digitalen Medien sollen nicht um ihrer selbst willen erlernt werden, sondern als Werkzeuge der Weltaneignung.“   

Der Masterplan verrät deutlich, worum es dem Schulministerium tatsächlich geht, auch wenn verbal die Ganzheitlichkeit des Lernens herausgestellt und ihre Unverzichtbarkeit beteuert wird. Kinder werden an Anforderungen angepasst, die von außen kommen. Die Betonung des effektiven Einsatzes digitaler Medien und die geplante Erweiterung von Bausteinen zum digitalen Lernen, die an sachunterrichtliche Inhalte anknüpfen und die informatische Grundbildung im Sachunterricht verankern sollen, sind deutlicher Ausdruck, dass das Lernen an die „Anforderungen der digitalen Welt“ angepasst werden soll. Der Verzicht auf das spielerische Lernen von Englisch in der Schuleingangsphase und die Verlegung des Faches Englisch auf die letzten beiden Jahrgangsstufen sind eine Anpassung an Erwartungen der weiterführenden Schulen, oder genauer gesagt, des Gymnasiums,

Nicht zuletzt ist der Masterplan der bildungspolitische Kotau vor dem unpädagogischen und kinderfeindlichen Leistungsbegriff mancher Ober- und Mittelschichtseltern, die die Grundschule als bloßen „Zulieferbetrieb“ zum Gymnasium wahrnehmen. Für den Grundschulverband NRW sind die Kompetenzerwartungen am Ende der Schuleingangsphase und der Klasse 4 „unerfüllbar“. In seiner Stellungnahme heißt es: „Wir nehmen den Lehrplanentwurf als eine Beschreibung eines unerreichbaren Erwartungshorizonts wahr.“ Er setze Lehrkräfte und Kinder unter Druck. „Wir wollen die Grundschule so gestalten, dass die Lern- und Leistungsentwicklung aller Kinder auf der Basis erfüllbarer Kompetenzen bestmöglich gelingt!“.

Der Masterplan verhält sich indifferent gegenüber der Relevanz von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). Er ignoriert Forderungen des Nationalen Aktionsplans BNE, indem er das Lernen der Kinder einseitig verzweckt und verplant. Er ignoriert den neu aufgelegten Fahrplan der UNESCO für BNE 2030. Dieser fordert, Kinder und Jugendliche in der Entwicklung transformativer Gestaltungskompetenzen für nachhaltige Entwicklungsziele stärken, die die Vereinten Nationen mit der Agenda 2030 zum Erhalt des Planeten und der natürlichen Lebensgrundlagen vorgegeben haben.

Keine Weichenstellung für inklusive Grundschulentwicklung  

Der Masterplan Grundschule hätte der Aufschlag für eine Weiterentwicklung zu einer inklusiven Grundschule für tatsächlich alle Kinder im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention und der UN-Behindertenrechtskonvention werden müssen. Die Grundgedanken inklusiver Bildung tauchen aber nicht auf. Inklusion wird als vorletztes Handlungsfeld und Anhängsel ohne inhaltlichen Bezug zu den anderen Handlungsfeldern unter der Überschrift „Gemeinsames Lernen wohnortnah ermöglichen“ abgearbeitet.  

Überlegungen, wie die Lehrpläne im Sinne von inklusiver Bildung überarbeitet werden müssten, spielen keine Rolle. Dabei müsste es um die zentrale Frage gehen, wie alle Kinder mit extrem unterschiedlichen Lernausgangslagen und Lernbedürfnissen auf unterschiedlichen Kompetenzniveaus erfolgreich am gemeinsamen Gegenstand lernen und mit gleichen Bildungschancen ohne Diskriminierung sich weiterentwickeln können,  

Die Lehrpläne orientieren sich an den Regelstandards auf einem mittleren Niveau und geben vor, was am Ende der Schuleingangsphase und am Ende von Klasse 4 die Grundschülerinnen und -schüler können sollen. Damit wird billigend in Kauf genommen, dass die Anforderungen nicht von allen Kindern auf diesem Niveau erreicht werden können.

Zukünftig sollen systematische „Lernfortschrittsanalysen“ in Verbindung mit gezielter individueller Förderung die Kinder unter Beobachtung stellen, deren Lern- und Entwicklungsprobleme in der Grundschule sichtbar werden. Sind am Ende der Schuleingangsphase, die auch drei Jahre umfassen kann, keine „wesentlichen Lernfortschritte“ erkennbar, dann ist dies ein mögliches Indiz für sonderpädagogischen Förderbedarf und eine zieldifferente Förderung.  

Das Verfahren der Lernfortschrittsanalyse ist zweifellos an das in den USA entwickelte sonderpädagogische Modell „Response to Intervention“ (RTI) angelehnt, das als System permanenter diagnostischer Kontrolle funktioniert und die Kinder unter Leistungsdruck setzt. Es konterkariert das Recht auf inklusive Bildung, indem Kinder sich an systemische Erwartungen anzupassen haben und bei Nichterfüllung als zieldifferent Lernende von den allgemeinen Bildungsgängen abgekoppelt, auf eine geringe Bildungsfähigkeit festgelegt und so diskriminiert werden.

Während gerade vor Augen geführt wird, wie herkunftsbedingte Ungleichheit und Ungleichzeitigkeiten in der Lern- und Kompetenzentwicklung von Kindern und Jugendlichen durch die Pandemie verschärft werden, hält der Masterplan strikt an irreführenden Normalitätserwartungen fest.  

Postskriptum

Drei Jahre hat sich das Schulministerium mit der Erarbeitung des Masterplans Zeit gelassen. Jetzt soll ausgerechnet in der Pandemie die Implementierung der Lehrpläne zum nächsten Schuljahr „durchgepeitscht“ werden. Dagegen haben GEW, Grundschulverband und VBE in einer gemeinsamen Petition die Aussetzung der geplanten Implementierung zum kommenden Schuljahr gefordert. Auf die Anfrage, ob die Ministerin bereit sei, auf die Forderung einzugehen, heißt es aus dem Schulministerium: „Die Petition zur Aussetzung der Implementation der Lehrpläne ist beim Ministerium für Schule und Bildung eingegangen und wird derzeit geprüft.“