von Brigitte Schumann

Am 7. 3. 2017 eröffnete das Kölner Landgericht den Prozess des ehemaligen Sonderschülers Nenad M., der wegen seiner ungerechtfertigten Einstufung als „geistig behindert“ durch eine Kölner Sonderschule das Land auf Schadensersatz und Schmerzensgeld verklagt.

Gutachterin stellt sich der Befragung    

Das zwischenzeitlich vom Gericht eingeholte Sachverständigengutachten lehnt das Land als  „vollständig unzureichend“ ab: Auf Antrag der beklagten Partei fand gestern die Anhörung der Gutachterin statt, die eine ausführliche schriftliche Ausarbeitung zu der Kritik an ihrem Gutachten vorlegte. Das beklagte Land unterstellt ihr pauschal Befangenheit wegen ihrer eindeutigen Positionierung pro Inklusion. Inhaltlich wird ihr ein unsachgemäßes Vorgehen vorgeworfen, da sie sich in der Begutachtung des Sachverhaltes in keiner Weise auf die geltende Rechtsverordnung des Landes beziehe. Mit freundlicher  Gelassenheit erläuterte die Gutachterin nachvollziehbar, worin nach der nordrhein-westfälischen Rechtsverordnung von 2005 die eindeutige Amtspflichtverletzung der Kölner Sonderschule und ihrer Schulaufsicht besteht.   

Fortschreibung des Förderbedarfs ohne ausreichende Überprüfung 

Der in Bayern erstmals bei der Einschulung des Klägers festgestellte sonderpädagogische Unterstützungsbedarf  im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung war angesichts unklarer Anamnese als vorsichtige  „Momentaufnahme“ ohne eine klare Prognose formuliert worden, so die Gutachterin. Die Diagnose war also mit Zweifeln an der Dauerhaftigkeit des Förderbedarfs versehen. Da die Zeugnisse in Bayern dem Schüler nach drei Jahren eine gute Lernentwicklung bestätigten, mussten sie als Hinweise gewertet werden, dass kein Förderbedarf im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung vorlag. Daraus schloss die Gutachterin, dass beim Schulwechsel nach NRW die aufnehmende Sonderschule  hinreichend Gründe für ein ordentliches Diagnoseverfahren hatte. Da die  nordrhein-westfälische Rechtsverordnung eine Prognose der voraussichtlichen Entwicklung verlangt, könne die bloße jährliche Fortschreibung des in Bayern unter Vorbehalt festgestellten Förderbedarfs kein begründeter rechtskonformer  Nachweis für eine geistige Behinderung sein. 

Verletzung des Kindeswohls   

Die Gutachterin stellte in ihrer Befragung heraus, dass das Kindeswohl  bei Entscheidungen der Schule nicht im Zentrum stand. Zum Beispiel wurde der  mehrfach geäußerte Wunsch des Schülers nach einem Schulwechsel zu einer Sonderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen nicht ernst genommen. Die Schule  hätte unterstützend und mit ihm zusammen die nächsten Schritte für dieses Ziel vorbereiten müssen, statt ihm seine Schulversäumnisse als Hinderungsgrund vorzuhalten.

Die Schule verfügte über hinreichende Anhaltspunkte, dass der Kläger keine  geistige Behinderung hat. Sie setzte ihn beispielweise als Dolmetscher bei Schulgesprächen mit seiner Mutter ein und erlebte ihn als selbständig agierenden Jungen, der bei der Schulleitung vorstellig wird und auf einen Schulwechsel beharrt. Ein Schüler mit geistiger Behinderung kann das nicht, unterstrich die Gutachterin. Und dennoch schnitt die Schule ihn aus sachfremden Gründen von schulischen Lern- und Abschlussmöglichkeiten ab, die ihm ein Wechsel zu einer Sonderschule mit einem anderen Förderschwerpunkt oder zu einer allgemeinen Schule mit sonderpädagogischer Unterstützung hätte bringen können.   

Der Umgang der Schule mit den erheblichen Schulversäumnissen war ausschließlich bestimmt von Vorhaltungen gegenüber dem Schüler, ohne jedoch das Versagen der Schule ebenso ins Kalkül zu ziehen. Es wäre naheliegend gewesen, seine Fehlzeiten auch als Reaktion auf seine intellektuelle Unterforderung und auf sein fehlendes Wohlbefinden an einer Schule zu bewerten, an der ausschließlich Kinder mit einer geistigen Behinderung unterrichtet werden. Den Zeugnissen seien keine Überlegungen der Schule für die individuelle Förderung des Schülers zu entnehmen.     

Wie der Herr, so‘s Gescherr!  

Diesen Eindruck konnten die Zuhörer vom gestrigen Prozesstag mitnehmen. Es gibt tatsächlich keine verbindlichen Vorgaben für die Durchführung der jährlichen Überprüfung des bestehenden Förderbedarfs. Das Land überlässt es der jeweiligen Schule, darüber zu entscheiden. Vergleichbarkeit, die ja heutzutage bildungspolitisch einen hohen Kurswert hat, spielt hier keine Rolle. Dass die Lehrpläne für die Sonderschule für Geistige Entwicklung seit 1980 bis heute keiner inhaltlichen Revision unterzogen worden sind, löste auch bei dem Richter ein ungläubiges Stirnrunzeln aus. Die Sonderschulen werden sich selbst überlassen. 

Möglicherweise ist die auffällige Zunahme des Anteils von Kindern mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung nicht ausschließlich auf die  medizinische Entwicklung zurückzuführen, sondern auch fehlender staatlicher Kontrolle zuzuschreiben. Wenn der Elternverein mittendrin e.V. zusammen mit vielen anderen Elterninitiativen in NRW eine von der Schulaufsicht unabhängige Inspektion der Sonderschulen für Kinder mit geistiger Behinderung fordert, dann entspringt das der berechtigten Annahme, dass Nenad kein Einzelfall ist. 

Das Gericht hat die Urteilsverkündigung für den 17. 7. 2018 festgesetzt.