von Brigitte Schumann
Ein Ergebnis der Corona - Krise steht für Bildungsexperten ziemlich sicher fest: Die Schließung von Kitas und Schulen hat die soziale Ungleichheit und Benachteiligung verschärft. Wie reagiert die Bildungspolitik darauf?
Neben Lehrer- und Elternverbänden warnt auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) vor einer Zunahme von Bildungsungleichheit und Leistungsunterschieden. Zu unterschiedlich sind die familiären Ressourcen und häuslichen Lernumgebungen, unter denen das Homeschooling stattfindet. Zahlreiche öffentliche Forderungen an die Kultusministerien stellen diese Problematik heraus.
Aktuelle Forderungen
Unter Berücksichtigung herkunftsbedingter Unterschiede dürften die häuslichen Aufgaben während der Zeit der Schulschließungen keinesfalls benotet und für die Versetzungsentscheidungen herangezogen werden. Alle Kinder sollten in die nächste Jahrgangsstufe versetzt und Klassenwiederholungen nur freiwillig ermöglicht werden. Auch die Übergänge in die Sek. I und Sek. II müssten zugunsten der Schülerinnen und Schüler geregelt werden. In einer „Erklärung zur Wiederöffnung der Schulen in NRW“ fordern der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, der Grundschulverband und die Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule mit weiteren Verbänden, eine Verstärkung der Chancenungleichheit zu vermeiden und die zentralen Prüfungen auszusetzen.
Hilfspakete zur bedarfsgerechten Förderung sollten Kindern den Wiedereinstieg erleichtern. Dazu gibt es viele kreative Ideen. Der Elternbund Hessen e.V. schlägt vor, in den Sommerferien im Rahmen von „Sommercamps“ kombinierte Lern- und Freizeitangebote in öffentlicher Verantwortung zu organisieren, damit Lernrückstände abgebaut und Belastungen während der Zeit der Schulschließungen aufgearbeitet werden können.
Zu diesen Forderungen hat sich die Kultusministerkonferenz (KMK) nicht geäußert. Sie hat lediglich erklärt, dass die Länder mit flexiblen Regelungen sicherstellen werden, „dass alle Schülerinnen und Schüler ihre Prüfungen absolvieren und ihre Abschlüsse im laufenden Schuljahr erreichen können“. Dagegen steht zu erwarten, dass die IT-Lobby es dank Corona einfach hat, sich bei der KMK Gehör zu verschaffen.
Mächtige Digitalisierungswelle
Die Krise hat offengelegt, dass es bis heute an einer gemeinsamen nachhaltigen Strategie der Länder zur Digitalisierung der Schulen fehlt. Der digitale Ausbau- und Entwicklungsstand in den Ländern, den Kommunen und den Schulen könnte nicht unterschiedlicher sein.
Homeschooling hat zu Tage gebracht: Schulen sind in der Ausstattung und der Nutzung digitaler Werkzeuge unterschiedlich aufgestellt. Aber selbst wenn sie optimal ausgestattet wären und das Lehrpersonal über entsprechende Konzepte verfügte, könnten nicht alle Schülerinnen und Schüler erreicht werden. Computer oder Laptop mit Drucker, WLAN und Internetanschluss sind nicht in allen Haushalten selbstverständlich. Sie müssten kostenlos bereitgestellt werden, damit alle Kinder einen Zugang zu E-Learning erhalten.
Der Ruf nach digitaler Vernetzung ist durch die Schulschließungen so unüberhörbar laut geworden, dass mit großer Sicherheit die Digitalisierung als Gewinner aus der Corona-Krise hervorgehen wird. Angesichts der Macht der kommerziellen Anbieter, die auf den lukrativen digitalen Bildungsmarkt drängen, muss die Bildungspolitik klären, ob sie die Digitalisierung der Schulen als Teil öffentlicher Daseinsvorsorge ausgestalten und verantworten oder zum Türöffner für Ökonomisierung und Privatisierung der Bildung machen will. Die KMK hat jedenfalls bislang nicht zu erkennen gegeben, wie sie den Appetit der großen IT- Lobbyisten zügeln will.
Die Verletzlichkeit verletzlicher Kinder
Das Deutsche Kinderhilfswerk fordert angesichts der Virusinfektion, dass „insbesondere Kinder in verletzlichen Lebenslagen und ihre Familien besonders aufmerksam in den Blick genommen werden, beispielsweise Kinder, die in Armut oder hochkonfliktreichen Situationen aufwachsen, geflüchtete Kinder und Kinder mit Behinderungen“.
Jedes fünfte Kind in Deutschland ist arm. Das sind nach offiziellen Studien 2,5 Millionen Kinder, unter Berücksichtigung der Dunkelziffer sogar ca. 4,4 Millionen. Ihre Bildungsbenachteiligung ist offenkundig. Wenn zu der Armutslage noch die geringe Bildung der Eltern hinzukommt, dann sind ihre Chancen auf den Gymnasialbesuch gleich Null, aber dafür sind sie überproportional in der Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen vertreten.
Arme Kinder sind besonders verletzlich. Die Corona-Krise trifft sie besonders hart. Der häusliche Stress ist groß, die Eltern sind belastet und können den Kindern bei der Bewältigung von Homeschooling und der auferlegten Kontaktsperre weniger unterstützend helfen als sozioökonomisch besser gestellte Eltern.
Wird die Politik die Kinder mit Armutsrisiken in den Blick nehmen, wenn es darum geht, die richtigen Lehren aus der Corona-Krise zu ziehen?
Die Entscheidung der Bildungspolitik, die Schulen auf der Basis der Vorschläge von Experten der Leopoldina wieder hochzufahren, beweist das Gegenteil. Nicht die individuellen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen nach der Krise stehen im Zentrum, sondern die möglichst gezielte Rückkehr zum alten konkurrenzorientierten Schulbetrieb, der mit seinen selektiven Übergängen und Prüfungen die verletzlichen Kinder zu Bildungsverlierern macht. Die Initiatoren der Petition an den Bundestag „Güterabwägung in der Krise: Chancen eröffnen für neue Bildungsmöglichkeiten statt Rückkehr zur alten Schule“ legen genau den Finger in die Wunde .
Inklusive Gleichheit anstelle struktureller Ungleichheit
Dass Ungleichheit und Benachteiligung als schwerwiegende Folgen der Corona-Pandemie öffentlich problematisiert werden, hat einen berechtigten Grund. Unabhängig von der derzeitigen Krise erweist sich die strukturelle Ungleichheit des selektiven Bildungssystems längst als gesellschaftliche Hypothek, die soziale Spaltung fördert.
Allen politischen Beteuerungen nach dem PISA- Schock zum Trotz hat sich der enge Zusammenhang von Herkunft und Bildungserfolg erhalten, wie die Nationalen Bildungsberichte ausweisen. Das städtische Quartier, in dem ein Kind aufwächst, ist für Sozialwissenschaftler inzwischen zu einem sicheren Indikator für die Bildungsbiografie des Kindes geworden. Eine Verschärfung von Chancenungleichheit muss beunruhigen, weil sie auch die soziale Spaltung verschärft und die demokratische Entwicklung der Gesellschaft in Frage stellt.
Daher sind die aktuellen Forderungen zwar gut und richtig, sie müssen aber noch weitergedacht werden. Es darf keine Rückkehr zur alten Normalität geben. Die Corona-Krise hat die Diskussion über grundlegende Veränderungen des Gesundheitswesens befördert. Sie ist auch eine Chance für die gesellschaftliche Debatte über die Zukunft unseres Bildungssystems und über die notwendige Transformation zu einem demokratischen, solidarischen, inklusiven und krisenfesten Schulsystem, das kein Kind zurücklässt. Auf dem Weg zu inklusiver Gleichheit im Sinne der Menschen- und Kinderrechte müssen aussondernde und benachteiligende Strukturen überwunden werden.