Das Schulministerium von NRW hat unter dem Druck öffentlicher Kritik an den fehlerhaften sonderpädagogischen Feststellungsverfahren vor einem Jahr zahlreiche wissenschaftliche Prüfaufträge zur Untersuchung der Verfahren erteilt.
Aktuell liegen dem Ministerium die Gutachten vor. Die Aspekte der Untersuchung umfassen eine qualitative Analyse der Praxis, eine systemische Gesamtbetrachtung, Standards und Kriterien für die Verfahren sowie eine ökonomische Analyse und Bewertung der Antragsstellungen. Eine vollständige Veröffentlichung der Gutachten ist in der Schulausschusssitzung des Landtages für März 2024 geplant.
Alarmierende Zahlen
Anlass für die Untersuchung ist nach Darstellung des MSB die steigende Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung. Verschwiegen wird, dass der Landesrechnungshof (LRH) in NRW mit seiner fortgesetzten Kritik am Feststellungsverfahren maßgeblichen Anteil an dieser Untersuchung hat.
Während sich die sonderpädagogische Förderquote insgesamt seit 1991 verdoppelt hat, ist sie im Förderschwerpunkt Sprache um das Dreifache und im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung sogar um das Fünffache gestiegen. Dass dagegen der insgesamt größte Förderschwerpunkt Lernen über diesen Zeitraum nur einen vergleichsweise geringen Anstieg verzeichnet, ist im Licht empirischer Forschung von Prof. Brigitte Kottmann als Folge unseriöser und willkürlicher „Umetikettierung“ zu deuten. Anhand der unerklärlich angestiegenen Zahl von Kindern mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung wird auch von dem Elternverein mittendrin e.V. angenommen, dass Kinder, die früher von der Sonderpädagogik als „lernbehindert“ diagnostiziert wurden, heute eher als „geistig behindert“ eingestuft werden.
Richtig Fahrt aufgenommen hat der Zuwachs der Förderquote seit 2009 mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und der Implementierung von Inklusion in das bestehende allgemeine Schulsystem. Diese Tendenz war deutlich erkennbar in der Regierungszeit von Rot-Grün und steht seitdem im Fokus der Kritik des LRH.
Intervention des LRH
In seiner Mitteilung vom 25.04.2013 unterrichtete der LRH den Landtag über die Prüfung des Schulbetriebs an öffentlichen Förderschulen. Er verwies darin auf den Anstieg der Schülerzahl mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei gleichzeitig sinkenden Schülerzahlen. Er rechnete die erheblichen Stellenanteile für die Durchführung der aufwändigen Verfahren vor. Angesichts schwerwiegender Mängel in den Feststellungsverfahren forderte er die Landesregierung auf, „das AO-SF-Verfahren in seiner derzeitigen Form grundsätzlich zu hinterfragen“.
Die fundierte Kritik des LRH, die sich zum Teil aus dessen eigenen Recherchen ergab, gibt ein negatives Bild von dem gesamten Verfahren, der sonderpädagogischen Diagnostik und den schulaufsichtlichen Entscheidungen ab. Es entsteht der Eindruck, dass Sonderpädagogik und Schulaufsicht sich in den Dienst der allgemeinen Schulen stellen. Was diese „bestellen“, bekommen sie auch prompt „geliefert“: die Eröffnung des Feststellungsverfahrens und die Anerkennung des vermuteten sonderpädagogischen Förderbedarfs mit dem gewünschten Förderschwerpunkt.
Gescheiterte rot-grüne Strategie
Das damalige Schulministerium unter der rot-grünen Landesregierung bemühte sich damals nicht um Aufklärung. Das Feststellungsverfahren wurde nicht grundsätzlich hinterfragt. Man verfolgte stattdessen die Intention, die Verfahren durch die Einrichtung eines Stellenbudgets für die Förderschwerpunkte Lernen, Emotionale und soziale Entwicklung und Sprache (LES) einfach zu umgehen und auszusetzen. Außerdem sollten die Schulen nur noch in Ausnahmefällen antragsberechtigt sein.
Wir wissen anhand der Statistik, dass die Strategie gescheitert ist. Das ergaben auch die Überprüfungen des LRH in den nachfolgenden Jahren. Die Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit festgestelltem sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf und parallel dazu die AO-SF-Verfahren nahmen trotzdem kontinuierlich zu. Ein Stimmungsbild zu den bildungspolitischen Entscheidungen aus der Perspektive der Gutachter:innen und Entscheider:innen des Feststellungsverfahrens haben die Wissenschaftler Thomas Barow und Daniel Östlund in ihrer Untersuchung der nordrhein-westfälischen Feststellungspraxis gezeichnet.
Der LRH fand auch weiterhin Verstöße gegen bestehende rechtliche Verfahrensvorschriften. Es gab z.B. Fälle, in denen die allgemeine Schule und die Eltern den Antrag auf Feststellung des Förderbedarfs „gemeinsam“ gestellt hatten. Es gab Fälle, wo Schulen ihren Darlegungspflichten nicht nachgekommen waren, und Fälle, wo die Schulaufsicht die Eröffnung des Verfahrens hätte ablehnen müssen.
Ungebremste „Etikettierungsschwemme“
Die schwarz-gelbe Regierung hob das Stellenbudget für LES wieder auf und kehrte zu der an das Feststellungsverfahren gebundenen Mittelzuweisung zurück. Damit stieg die Zahl der amtlich diagnostizierten Kinder mit Förderbedarf weiter. Ohne Abbau der Segregation in den Förderschulen nahm die Inklusionsquote in den allgemeinen Schulen erheblich zu.
Die Wissenschaftler:innen Knauf/Knauf gingen daher in ihrer bildungsstatistischen Analyse 2019 der Frage nach, wie sich die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf zusammensetzt: Sie fanden heraus, dass es sich nur zu einem Viertel um Kinder aus den Förderschulen handelte, während drei Viertel der Schüler:innen an allgemeinen Schulen als förderungsbedürftig diagnostiziert worden waren.
Das Ergebnis hätte schon damals das Schulministerium dazu veranlassen müssen, wissenschaftlich genau klären zu lassen, wie und warum es zu der zunehmenden Zahl von Schüler:innen an allgemeinen Schulen kommt, denen die Sonderpädagogik einen Förderbedarf zuschreibt. Zumal Prof. Hans Wocken auf der Basis statistischer Analysen nicht müde wurde, das Ausmaß der Etikettierung von Kindern mit schulischen Leistungsschwächen als sonderpädagogisch förderbedürftig mit dem Begriff der „Etikettierungsschwemme“ öffentlich anzuprangern. Er warf der Sonderpädagogik vor, sich in den Dienst der „Ressourcenbeschaffung“ für die allgemeinen Schulen zu stellen.
Fragwürdige „Ressourcenbeschaffung“
Das Feststellungsverfahren ermöglicht ganz offensichtlich unter dem Label von Inklusion, dass Regelschulen weniger zögerlich die Eröffnung der sonderpädagogischen Überprüfung von Kindern beantragen, um der Bildungspolitik zusätzliche personelle Mittel gegen den Mangel abzutrotzen. Ist dieses Vorgehen damit entschuldbar, dass die zusätzlichen Mittel der notwendigen Förderung des Kindes dienen sollen?
Die Feststellungsverfahren wirken diskriminierend und stigmatisierend. Mit der Statusdiagnose des sonderpädagogischen Förderbedarfs werden die Betroffenen identitätsbeschädigend auf ihre Leistungsdefizite reduziert. Während ihre Abschlusschancen in den allgemeinen Schulen günstiger ausfallen, wie eine Studie von Prof. Klaus Klemm zeigt, werden sie als Abgänger:innen der Förderschule in der Regel bildungsarm und ohne regulären Abschluss entlassen und sind auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt chancenlos.
Diese Art der Ressourcenbeschaffung ist zwar die gänzlich falsche „Notbremse“, aber auch Ausdruck einer Dilemmasituation und sollte von der Landesregierung als Mahnung verstanden werden, die allgemeinen Schulen angemessen und bedarfsgerecht auszustatten.
Diese Art der Ressourcenbeschaffung ist zwar die gänzlich falsche „Notbremse“, aber auch Ausdruck einer Dilemmasituation und sollte von der Landesregierung als Mahnung verstanden werden, die allgemeinen Schulen angemessen und bedarfsgerecht auszustatten.
Willkür der Sonderpädagogik
Wissenschaftler:innen verweisen seit langem darauf, dass es für die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs bei Kindern, die im schulischen Kontext Lernprobleme und Leistungsrückstände zeigen, keine validen wissenschaftlichen Kriterien gibt (Begemann,1970; Eberwein,1996; Hänsel, 2005; Kottmann 2006; Becker 2015, Koßmann, 2019, Grosche, 2021).
In ihrer Unsicherheit mangels solider Kriterien greift die Sonderpädagogik auf standardisierte Intelligenztests zurück und versucht mit dem IQ-Wert das Schulversagen als Intelligenzschwäche zu begründen. Damit stellt sie sich blind für den Faktor der sozialen Herkunft, obwohl die Förderschwerpunkte Lernen, Emotionale und soziale Entwicklung und Sprache auffällig mit Kindern aus sozioökonomisch und soziokulturell extrem benachteiligten Familien verknüpft sind.
Die Anforderungen der Schule stellen für Kinder der Unterschicht einen krassen „Milieubruch“ zu dem dar, was sie an Habitus mitbringen. Ihre Abweichung im Lern- und Leistungsverhalten ist quasi vorprogrammiert und wird, wenn sie im Kontext der Klasse und Schule auffällig werden, als Behinderung uminterpretiert. Die Sonderpädagogik macht mit ihrer Diagnostik aus sozial Benachteiligten wie zu den Zeiten der Hilfsschule Behinderte.
Feststellungsverfahren beenden!
Zur Behebung der Missstände reicht die Optimierung des Feststellungsverfahrens – bspw. durch Verschlankung der Durchführungsbestimmungen oder Festsetzung einheitlicher Kriterien für die Diagnostik oder Qualitätskontrollen oder restriktive Auflagen für die Eröffnung der Verfahren – nicht aus.
Es geht um die Erkenntnis, dass das sonderpädagogische Feststellungsverfahren unbrauchbar und schädlich ist und daher abgeschafft werden muss. Sein Ausgangspunkt sind immer die Lern-, Leistungs- und Verhaltensdefizite des Kindes, die die Sonderpädagogik in Gutachten einseitig als Probleme des Kindes mit der Zuordnung zu einem Förderschwerpunkt festschreibt, während die Probleme, die die Schule als System für das Kind darstellt, ebenso außen vor bleiben wie Hinweise zu seiner Förderung.
Zur Erinnerung: Der eigentliche Zweck des Verfahrens besteht darin, die Existenz der Förderschule zu legitimieren und die Tür zur Segregation trotz der menschenrechtlichen Verpflichtung zu Inklusion offen zu halten. Die inklusive Schule benötigt keine Etikettierung und Kategorisierung der Kinder, wohl aber eine indexbasierte Zuweisung von (sonder-)pädagogischen Ressourcen, die den Bedarf der einzelnen Schule für die pädagogische Förderung ihrer Kinder präzise erfasst.
Brigitte Schumann 12/2023