Nachdem Forderungen bekannt geworden sind, die Förderschulen bei der Wiederöffnung der Schulen zurück zu stellen, wenden die Elternvereine für inklusive Bildung sich in einem Offenen Brief an Schulministerin Yvonne Gebauer und an die Abgeordneten des Landtags.

Der Inklusionsfachverband Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen NRW e.V. und der mittendrin e.V. fordern, dass bei den Überlegungen zur schrittweisen Öffnung der Schulen immer auch die Belange von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung mitgedacht werden müssen.

Dabei stellen die Elternverbände klar, dass Schüler mit Behinderung das gleiche Recht auf Bildung haben und ihre Bildung nicht nachrangig betrachtet werden darf. Dies gelte gleichermaßen für inklusive Schulen wie für Förderschulen.

Insgesamt setzen die Vereine sich dafür ein, im Rahmen der Schulöffnung weniger in Jahrgängen zu planen, als den Blick darauf zu richten, welche Schüler vom Wegfall des Schulalltags härter getroffen sind.

Offener Brief

Sehr geehrte Frau Ministerin Gebauer,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

die „Corona-Zeit“ mit ihren Betretungs- und Kontaktverboten und ihren Hygieneauflagen wird unser gesellschaftliches Leben mindestens bis zum Ende des nächsten Jahres prägen – wenn nicht länger. Seit der letzten Woche wird verstärkt und sehr kontrovers über den Weg zur schrittweisen Wiedereröffnung der Bildungseinrichtungen Kita und Schule gestritten, der die erreichten Sicherheitsstandards bei Hygiene und distanziertem sozialen Umgang beibehält.

Bei allen berechtigten Bemühungen um einen sicheren Weg zur Normalisierung des Zusammenlebens in der „Corona-Zeit“ thematisiert bislang niemand die Situation von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung und/oder sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf. Indem die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) vom Schulministerium gar die Schließung aller Förderschulen für die „Corona-Zeit“ fordert, macht sie diesen blinden Fleck der Landespolitik sogar zur Tugend.

Dabei geht es bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung und/oder sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf um eine Gruppe in unserer Gesellschaft, die in besonderem Maße von gesellschaftlicher Unterstützung abhängig ist. Von der Lernunterstützung durch Schulbegleiter, von sozialpädagogischer Begleitung im schulischen Alltag, von sozialarbeiterischer Unterstützung der Familien.

Für diese Gruppe gilt das Recht auf Bildung in gleichem Maße wie für Abiturienten. Wenn also die (schrittweise) Wiedereröffnung von Schulen geplant wird, dann bitte für alle Schulformen und alle Schülerinnen und Schüler! Die Fokussierung der Debatte auf die Prüfungsjahrgänge 10 und 12/13 und die Entlassjahrgänge der Kindertageseinrichtungen und Grundschulen bei gleichzeitiger Vertröstung aller anderen Bildungsteilnehmenden mit „Homeschooling“ verkennt, dass Kinder- und Jugendliche aus Familien in belastenden und prekären Lebenssituationen deutlich in ihrer Teilhabe an Bildung behindert werden, zum Beispiel:

- Kinder und Jugendliche aus Familien, denen die technischen Voraussetzungen für „Homeschooling“ fehlen, z.B. eine ausreichend schnelle Internetverbindung oder ein Drucker

- Kinder und Jugendliche aus Familien, die ihren Kindern aufgrund von räumlicher Enge keinen Rückzugsort zum Lernen bereitstellen können

- Kinder und Jugendliche aus Familien, die vor dem Hintergrund eigener Bildungsbenachteiligung ihre Kinder nicht zum Selbstlernen motivieren können

- Kinder und Jugendliche, die aufgrund ihres jungen Alters oder aufgrund einer Beeinträchtigung über keine ausreichenden Selbstlernkompetenzen verfügen

- Kinder und Jugendliche, die nur in sozialer Beziehung zu „ihre*r“ Lehrer*in oder zu ihre*r persönlichen Assistent*innen lernen können

- Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen werden durch die Schließung der Schulen zusätzlich benachteiligt, weil viele kommunale Kostenträger das Unterstützungssystem, das ihnen in der Schule zur Verfügung steht, für das Lernen zu Hause nicht finanziert. Eltern können diese Unterstützungskräfte zu Hause nicht ersetzen.

Um die Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen in der „Corona-Zeit“ zu stoppen, fordern wir:

- die schrittweise Wiedereröffnung aller Schulformen – auch der Förderschulen

- Prioritärer Zugang der bildungsbenachteiligten Schüler*innengruppen aus belastenden und prekären Lebenssituationen bei der Wiedereröffnung von Schulen und Kindertageseinrichtungen

- Prioritärer Zugang aller Schüler*innen, die - aus unterschiedlichsten Gründen - nicht im "homeschooling" lernen können, bei der Wiedereröffnung von Schulen und Kindertageseinrichtungen

- Sofern das Homeschooling andauert und auch Kinder mit Behinderung und/oder sonderpädagogischem Förderbedarf weiter zu Hause lernen (müssen), sind die entsprechenden Unterstützungssysteme (Schulbegleiter*innen, Schulsozialarbeiter*innen, Sozialpädagog*innen in der Schuleingangsphase, Assistenzkräfte) im familiären Umfeld zu aktivieren, um eine wirksame Lernunterstützung zu gewährleisten.

Mit freundlichen Grüßen

Bernd Kochanek, Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen NRW e.V. Eva-Maria Thoms, mittendrin e.V.