sonderpädagogikEine Hamburger Schulstudie forderte bereits 2018 dazu auf, die sonderpädagogische Ausrichtung der inklusiven Bildung in Schulen aufzugeben. Sie zeigt auch, dass die Empfehlungen eines aktuellen Gutachtens zum sonderpädagogischen Feststellungsverfahren in NRW in die falsche Richtung weisen.

Die Hamburger Schulstudie „Evaluation inklusiver Bildung in Hamburger Schulen“, kurz EiBiSch genannt, ist eine komplexe Längsschnittuntersuchung. In einer engen Kooperation zwischen der Universität Hamburg, der Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB) und dem Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) hat die Studie den Stand der inklusiven Schulentwicklung in Hamburg im Auftrag der Behörde über mehrere Schuljahre hinweg erforscht.

EiBiSch hat 35 Grundschulen von der Klassenstufe 2 bis 4 und 12 Stadtteilschulen von Klassenstufe 5 bis 6 sowie 3 Regionale Bildungs- und Berufszentren (ReBBZ) auf die Auswirkungen der eingeführten inklusiven Bildung unter dem Aspekt des fachlichen und überfachlichen Lernens untersucht sowie Einstellungen und Bewertungen von Schulleitungen, Lehrkräften, Eltern und Schüler:innen erfragt. 

Zentrale Befunde   

Die Studie kann belegen, dass die Zugehörigkeit zu den sonderpädagogischen Förderkategorien Lernen, Sprache, Emotionale und soziale Entwicklung (LSE) kein Prädikator für zu erwartende Schulleistungen ist. Unter den Schüler:innen mit der Diagnose sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich LSE finden sich sowohl Lernende, die die Mindeststandards erreichen, als auch solche, die diese verfehlen. Auch die Zugehörigkeit zu der Gruppe ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in den Grund- und Stadtteilschulen gibt keinen Aufschluss über die Kompetenzentwicklung der Schüler:innen.

Entscheidend für schulisches Abschneiden und das Erreichen der Mindeststandards ist dagegen laut Studie die Zugehörigkeit zu einer Klasse, in der alle zur Verfügung stehenden Förderressourcen für einen adaptiven Unterricht eingesetzt werden. Mit der Anpassung an die Erfahrungen und Lernvoraussetzungen der Kinder wird die am institutionellen sonderpädagogischen Denken orientierte Gruppenaufteilung in Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf durch die personale Orientierung an der Unterschiedlichkeit aller Schüler:innen im gesamten Heterogenitätsspektrum ersetzt. 

Die für die Studie verantwortlichen Wissenschaftler:innen Schuck, Rauer und Prinz stellen heraus, „dass die schulorganisatorisch verwendeten Kategorien sonderpädagogischer Förderungen kaum eine brauchbare prognostische Qualität und Differenzierungskraft für die Entwicklung der Schüler:innen haben. Wird zudem berücksichtigt, dass sonderpädagogisch geförderte Kinder nahezu durchgängig ihre emotional-sozialen Schulerfahrungen schlechter einschätzen als die nicht sonderpädagogisch geförderten, sind der Nutzen und die Folgen solcher Kategorisierungen neu abzuwägen“.

Mit der Annahme, dass mit der Zuweisung der sonderpädagogischen Förderung keine Realität abgebildet, sondern eine sonderpädagogische Realität geschaffen wird, stellen Schuck et al. auch die sonderpädagogische Förderung in Frage. Es sei darüber hinaus höchst fraglich, „ob mit dem kategorialen Begriff der ,Sonderpädagogischen Förderung‘ überhaupt eine hinreichend eindeutige und sachgerechte Beschreibung individueller Fördernotwendigkeiten und -bedürfnisse in unterschiedlichen Leistungs- und Persönlichkeitsbereichen möglich sein kann“. 

Konsequenzen für die inklusive Schulentwicklung 

Die Wissenschaftler:innen versprechen sich eine Verbesserung der qualitativen Förderung und der schulischen Lernergebnisse für alle Schüler:innen durch die Implementation einer lernprozessbegleitenden, lerngegenstandsbezogenen Diagnostik und eines darauf aufbauenden adaptiven und damit differenzierenden Unterrichts in der Verantwortung der Schulen. „Die Zielperspektive ist eine ,personale‘ Orientierung in Diagnostik, Unterricht und Förderung, die nahtlos in die Leitideen inklusiver Bildung münden.“

Die Umsetzung wäre aus Sicht der Wissenschaftler:innen in einem Fördermonitoring zu evaluieren und zu dokumentieren, das über die Verwendung aller gebündelten und nach Sozialindex systemisch bereitgestellten Ressourcen für die Schulen Auskunft gibt. Eine regelmäßige Erfassung der Anzahl der sonderpädagogisch in den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung geförderten Schüler:innen für interne und externe Steuerungszwecke wäre damit überflüssig.

Emanzipation von der Sonderpädagogik

Schuck et al. empfehlen, dass inklusive Bildung sich aus der sonderpädagogischen Verhaftung löst. Sie sehen die Förderkategorien tief verankert in der Geschichte der Sonderpädagogik und institutionell ausgerichtet. Die Inklusion verlange jedoch eine personale Orientierung bezogen auf Diagnostik, Unterricht und Förderung.

Die inklusive Schule müsse das klassische Begriffsinventar der Sonderpädagogik und die damit verbundenen Orientierungen ablegen. Die kategorialen Begriffe der sonderpädagogischen Diagnostik seien institutionell am Förderschulsystem ausgerichtet. „Diesen Widerspruch zwischen der immer noch verbreiteten klassischen institutionellen Orientierung und dem Erfordernis der Verwirklichung der personalen Orientierung in der Inklusion gilt es konzeptionell und praktisch wirksam zu bearbeiten.“

Das NRW-Gutachten

Ausgangspunkt wiederum für das 2023 vom Schulministerium in Auftrag gegebene wissenschaftliche Gutachten zum sonderpädagogischen Feststellungsverfahren in NRW, das im April 2024 veröffentlicht worden ist, ist die auffällig steigende Anzahl der Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf.

Der Prüfauftrag des Schulministeriums an das wissenschaftliche Konsortium zielt darauf, im Rahmen einer systemischen Gesamtbetrachtung die bestehende Praxis und Struktur der sonderpädagogischen Feststellungsverfahren in ihrer grundlegenden systemischen Ausrichtung zu begutachten und Empfehlungen für eine Um- und Neugestaltung der Feststellungsverfahren in NRW vorzulegen. Dabei soll das „Spannungsfeld erfolgreicher individueller Förderung und effektiver Ressourcensteuerung bei mittelfristig weiterhin anhaltendem Lehrkräftemangel“ ebenso berücksichtigt werden wie die menschenrechtliche Verpflichtung zum Aufbau eines qualitativ hochwertigen inklusiven Bildungssystems.

Die Empfehlungen

Im Zentrum der daraufhin verfassten wissenschaftlichen Empfehlungen steht die Implementation einer präventionsorientierten Gesamtstrategie zur Verbesserung schulischer Bildung und damit zur Reduktion des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs. Die präventive Gesamtstrategie bindet das Gutachten an ein Regime von verpflichtenden Maßnahmen für die Schulen. Dazu gehören frühzeitige und regelmäßige universelle Screenings zur Erfassung der sozialen, emotionalen, lernbezogenen, sprachlichen und verhaltensbezogenen Situationen aller Schüler:innen als Ausgangspukt für gezielte Diagnostik und Förderung der Risikoschüler:innen.

Die Unterrichtsgestaltung und der Einsatz von Diagnose -und Förderinstrumenten sollen sich stärker an wissenschaftlich erprobten und evidenzbasierten Methoden und standardisierten Programmen der empirischen Sonderpädagogik ausrichten. Als bevorzugtes Instrument wird das gestufte Präventions- und Fördermodell Response-to-Intervention (RTI) empfohlen.

Damit kommt ein sonderpädagogisches Instrument zum Einsatz, das auf Stufe 1 der Erfassung der Schüler:innen mit Problemen im Lernen und Verhalten dient. Auf Stufe 2 (für ca. 20 % aller Schüler:innen) erfolgt die zusätzliche Förderung in einer spezifischen Kleingruppe, wobei der Fördererfolg „engmaschig“ und möglichst zeitnah überprüft wird. Auf Stufe 3 (für ca. 5 % aller Schüler:innen) werden die Lernenden, die auf Stufe 2 keine Erfolge vorweisen können, durch stärker individualisierte Methoden gefördert. Wenn die Förderangebote zu keiner langfristigen Verbesserung der Entwicklungsmöglichkeiten führen, ist eine spezialisierte sonderpädagogische Unterstützung angezeigt.

Mit der Einrichtung von regionalen Expertise-Zentren soll nach den Empfehlungen des Gutachtens die Bereitstellung des wissenschaftlich erprobten Materials sowie die Fortbildung und Beratung der allgemeinen Lehrkräfte und der Sonderpädagog:innen gewährleistet werden.

Verfestigung sonderpädagogischer Strukturen

Das kategoriale Instrumentarium der Sonderpädagogik wird nicht in Frage gestellt. Die Förderkategorien bzw. Förderschwerpunkte sollen laut Gutachten ausdrücklich präzisiert, aber nicht abgeschafft werden.

Mit dem sonderpädagogischen Präventions- und Fördermodell RTI werden auch die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und die sonderpädagogische Förderung nicht aufgehoben, sie werden lediglich an das Ende einer engmaschigen Förder- und Lernverlaufsdiagnostik verlagert. Wenn das Kind trotz Förderung nicht respondiert, dann hat es einen erwiesenen sonderpädagogischen Förderbedarf, der sowohl in der allgemeinen Schule als auch in der Förderschule erfüllt werden kann. 

Im Widerspruch zur Inklusion  

Die Zielperspektive ist keine „personale“ Orientierung in Diagnostik, Unterricht und Förderung, die wie im Hamburger Modell nahtlos in die Leitideen inklusiver Bildung mündet.

Hier geht es nicht um einen adaptiven Unterricht, der sich systemisch an die Vielfalt der Schüler:innen und ihrer unterschiedlichen Lernbedürfnisse und -bedarfe anpasst. Hier geht es um die frühzeitige Ermittlung der Defizite bei Schüler:innen mit Lern- und Entwicklungsproblemen, die mit dem technokratischen RTI-Modell an das System und seine Vorgaben angepasst werden sollen. Gelingt dies trotz sonderpädagogischer Unterstützung nicht, liegt das Problem an den Kindern und nicht am System.

Vertreter:innen der Sonderpädagogik empfehlen RTI als Konzept, das sich „insbesondere als Überführungsstruktur und organisatorischen Rahmen für den inklusiven Change-Prozess eignet“ (Huber et al. 2013). Dabei ist es ein Mittel zur Leistungsselektion, das gesellschaftliche Problemlagen wie Armut, soziale Benachteiligung; Flucht und Migration nicht nur ignoriert, sondern individualisiert.

RTI als Rekontextualisierungsstrategie  

Prof. Bettina Amrhein, eine der Wissenschaftler:innen, die am NRW-Gutachten mitgewirkt haben, hat sich als Herausgeberin des Buches „Diagnostik im Kontext inklusiver Bildung“ (2016) mit der Frage beschäftigt, was in einem Schulsystem wie dem unseren passiert, das auf „eine Innovation trifft, die derart in Opposition zur Logik des eigenen Systems steht“.

Sie hat auf der Handlungsebene der Einzelschule nachgewiesen, dass auf der Akteursseite Reformvorgaben so rekontextualisiert werden, dass sie in Übereinstimmung mit den vorhandenen Kontextbedingungen gebracht werden. „Dabei kommt es mitunter zu schwerwiegenden Umformungen, die dem Anspruch der UN-Konvention nicht gerecht werden“, so Amrhein.  

Diesen rekontextualisierenden Umgang mit Vorgaben der UN-BRK erkennt Amrhein auf allen Ebenen des Bildungssystems und verweist dabei auch auf das RTI-Modell, das als diagnostisches Modell „sich problemlos mit der bestehenden Systemlogik eines gegliederten Schulwesens kombinieren lässt“. Mit seiner rekontextualisierenden Funktion verfolgt RTI also auch im Urteil dieser Wissenschaftlerin nicht die Pädagogik der Vielfalt, die für inklusive Schulen konstitutiv ist.

Auftrag für die GEW in NRW

Die Hamburger Schulstudie wurde bereits 2018 veröffentlicht, aber ihre Empfehlungen wurden seitens der Verwaltung und der Politik in Hamburg bis heute ignoriert, weil sie ganz offensichtlich nicht in das politische Kalkül passen. Lediglich die Hamburger GEW hat die Vorschläge begrüßt und setzt sich bis heute für ihre Umsetzung ein. In den Leitlinien für gute Bildungspolitik zur Bürgerschaftswahl 2020, die immer noch aktuell sind, fordert die GEW die Parteien auf, „die Ergebnisse der EiBiSch-Studie und ihre Empfehlungen ernst zu nehmen und Maßnahmen standortbezogen und mit den Schulgemeinschaften vor Ort gemeinsam zu entwickeln und umzusetzen“.

Die GEW in NRW hat sich bislang mit Stellungnahmen zum NRW-Gutachten zurückgehalten. Mit ihrer Positionierung zu EiBiSch hat die Hamburger GEW der GEW in NRW eine Steilvorlage geliefert. 

Brigitte Schumann            09/2024