Die NRW-Landesregierung hat sich bewusst für die Beteiligung der Förderschule am Startchancen-Programm entschieden. Ist das zielführend?
In Ihrer Pressemitteilung hat Schulministerin Feller öffentlich gemacht, dass bei der Verteilung der Fördergelder aus dem Startchancen-Programm 60 % für Grund- und Förderschulen und der restliche Anteil für weiterführende und berufliche Schulen vorgesehen sind. Bei der Auswahl der Schulen habe man sich „streng“ an der Zielsetzung des Programms und der Vereinbarung zwischen Bund und Ländern orientiert, so die Ministerin. Demnach wäre also auch die Beteiligung der Förderschule an der Förderung verbindlicher Teil der für alle Bundesländer geltenden Vereinbarung zwischen Bund und Ländern.
Formelkompromiss
In der Vereinbarung sucht man jedoch vergeblich nach einem expliziten Hinweis auf die Förderschule als Objekt der Förderung. Das Schulministerium kann sich nur auf eine weit gefasste Formulierung in der Vereinbarung berufen. Danach sollen 60 % der Fördergelder für den Primarbereich bereitgestellt werden. Da die Förderschule auch über eine Primarstufe verfügt, ist es eine Sache der Interpretation, ob neben der Grundschule auch die Förderschule gemeint ist. Keineswegs kann daraus eine verbindliche Vorgabe für die Länder abgeleitet werden.
Hinter der gewählten Formulierung verbirgt sich die unter den beteiligten Akteuren offenbar strittige Frage, ob die Förderschule berücksichtigt werden soll. Offensichtlich konnte man sich nur auf einen Formelkompromiss einigen, der den Bundesländern erlaubt, eigene Entscheidungen bezüglich der Förderschule zu treffen. Während NRW sich festgelegt hat, steht die Entscheidung bei anderen Bundesländern noch aus.
Das nordrhein-westfälische Schulministerium sieht seine Entscheidung für die Beteiligung der Förderschule am Startchancen-Programm durch die Kompromisslösung hinreichend abgedeckt und stellt auf Anfrage selbstbewusst fest: „In diese Förderung auch die Förderschulen einzubeziehen, ist eine bewusste Entscheidung der nordrhein-westfälischen Landesregierung“.
Fehlentscheidung
Die NRW-Landesregierung trägt die volle Verantwortung für die Fehlentscheidung, die 60% zwischen Grund- und Förderschulen aufzuteilen. Sie muss sich die Frage gefallen lassen, wie sich die offiziell ausgegebene Zielsetzung des Startchancen-Programms mit ihrem Beschluss vereinbaren lässt. Soll doch das Programm dazu beitragen, „die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems in Deutschland nachhaltig zu verbessern, die Bildungs- und Chancengerechtigkeit zu erhöhen und den starken Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg aufzubrechen.“
Denn: Trotz ihrer im Vergleich zu allen anderen Schularten vorrangigen Stellung – bezogen auf Finanzierung und personelle Ausstattung – hat die Förderschule bis heute nicht den geringsten Nachweis erbringen können, dass sie den Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungserfolg aufbricht und die Bildungs- und Chancengerechtigkeit erhöht.
In ihrem Gutachten für die damalige rot-grüne Landesregierung empfahlen die Professoren Klaus Klemm und Ulf Preuss-Lausitz schon 2011: „Um die schulische Absonderung insbesondere von Armutskindern zu vermeiden, die sich zudem sowohl kognitiv als auch für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung nachteilig auswirkt, kann nur das generelle Auslaufen der Förderschulen mit den Förderschwerpunkten Lernen, Emotionale und Soziale Entwicklung und Sprache für die Anhebung der Schulabschlüsse und damit das Erreichen normaler Ausbildungsgänge wie auch die Stärkung sozialer Partizipation empfohlen werden.“
In ihrer bildungssoziologischen Studie kann Prof. Jonna Blanck (2020) empirisch nachweisen, dass die Förderschule die soziale Benachteiligung ihrer Schülerschaft nicht ausgleicht. Als Ausgesonderte stigmatisiert, werden sie zusätzlich in ihren Ausbildungschancen extrem benachteiligt. Damit wird die Förderschule ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht und verliert ihre Berechtigung.
Verletzung der UN-BRK
Man kann es nicht oft genug wiederholen: Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ist Deutschland am 26.03.2009 – also vor 15 Jahren – die Verpflichtung eingegangen, das segregierende Förderschulsystem abzubauen. In den Staatenprüfungen von Deutschland, die der UN-Fachausschuss zur Umsetzung der UN-BRK zweimal durchgeführt hat, kritisiert dieser die ungebrochene Dominanz der Förderschulen, die unzureichenden Bemühungen um ihren Abbau und empfiehlt dringend einen Aktionsplan für ein einheitliches konventionskonformes Vorgehen.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) sieht in dem Erhalt der Förderschulen eine klare Verletzung des menschenrechtlichen Auftrags zu inklusiver Bildung. Es weist die verschiedenen „Begründungsversuche zur Legitimation der Sonderbeschulung“ als wissenschaftlich widerlegt und „nicht haltbar“ zurück: „Eine Förderschule ist nur der Beginn von lebenslangen Exklusionsketten, in denen Kinder mit Behinderungen auch als Erwachsene oft verhaftet bleiben“, lautet sein geradezu vernichtendes Urteil über die Förderschule als Bildungsinstitution.
Die aktuelle Fehlentscheidung der Landesregierung ist kein „Ausrutscher“, sie ordnet sich ein in eine Bildungspolitik, die das sog. Elternwahrecht für den Erhalt und die Ausweitung des Förderschulsystems missbraucht.
Stärkung der Grundschulen
Die uneingeschränkte Stärkung der Grundschulen und ihrer Kinder muss das Ziel sein. Das Kompetenzniveau an Grundschulen ist bundesweit gesunken, wie der IQB-Bildungstrend 2021 für die Viertklässler:innen ausweist. Auch der Zusammenhang zwischen dem sozialen Hintergrund und dem Kompetenzerwerb hat sich gegenüber 2016 bundesweit noch einmal verstärkt.
Das Abschneiden der nordrhein-westfälischen Grundschulen fällt gegenüber anderen Bundesländern in allen untersuchten Bereichen besonders ungünstig aus. In den wissenschaftlichen Gutachten, die die Landesregierung zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs in Auftrag gegeben hat, wird die klare Empfehlung ausgesprochen, die Prävention in den Grundschulen auszubauen, um Rückstände im Bereich des Lernens und der sozialen Entwicklung aufzuholen.
Verminderung regionaler und kleinräumiger Bildungsdisparitäten
Der „Bildungsbericht Ruhr 2020“ stellt gegenüber anderen Regionen in NRW fest: „Im Ballungsraum Ruhrgebiet finden sich überproportional häufiger Schulen, deren Rahmenbedingungen des Lernens besonders herausfordernd sind.“ Gut ein Drittel der Grundschulen gehören zum sog. Standorttyp V mit einer besonders hohen Quote von Kindern mit Armuts-, Migrations- und Zuwanderungshintergrund. Zudem sind die Bildungschancen im Ruhrgebiet durch die starke soziale Segregation in den großen Ballungszentren sozialräumlich ungleich verteilt.
Zusätzliche chancenausgleichende Ressourcen für Grundschulen in herausfordernden Lagen verhindern eine beschädigende Kategorisierung und Stigmatisierung von Kindern in sonderpädagogischen Feststellungsverfahren, die zudem mit dem Risko der Auslese in die Förderschule behaftet sind. Die Einführung des Sozialindexes ist ein erster richtiger Schritt, der aber auch mit bedarfsgerechten Finanzmitteln unterlegt werden muss.
Der Europarat beschämt die deutsche Politik mit der aktuellen Feststellung, dass Deutschland trotz seines Reichtuns zu wenig gegen soziale Ungleichheit, Armut und Aussonderung unternimmt und stellt die Kinderrechte in das Zentrum. Schon allein deshalb verbieten sich Investitionen in aussondernde, benachteiligende Strukturen in NRW und allen anderen Bundesländern.
Brigitte Schumann (03/2024)