von Brigitte Schumann

Die FDP hat der schulpolitischen Koalitionsvereinbarung mit der CDU deutlich ihre neoliberale Handschrift aufgedrückt.

Die schulstruktur-konservative CDU wird erkennbar an ihrem Bekenntnis zur „Schulvielfalt“ und versucht, ihr Lieblingskind, die Hauptschule, zu reanimieren. Mit der menschenrechtlichen Verpflichtung, ein inklusives Schulsystem zu entwickeln, hat das alles nichts zu tun.

Die Neoliberalisierung des Bildungsbegriffs

Das Kapitel Schule in der Koalitionsvereinbarung unter der Überschrift „Land des Aufstiegs durch Bildung“, ein eher für die abgewählte SPD typischer Slogan, beginnt mit dem Bekenntnis zu leistungsfähigen Schulen, „weil auch die Herausforderungen, denen sich junge Menschen im (Berufs-)Leben  stellen müssen, kontinuierlich wachsen. Dazu gehört eine immer höhere Erwartung an das Erlernen von Fremdsprachen, von mathematisch-naturwissenschaftlichen und technischen Fächern ebenso wie der kompetente Umgang mit digitalen Medien“.

Mit der engen Verbindung von Bildung und Berufsleben lassen sich die Einführung des hoch umstrittenen Faches Wirtschaft, die Stärkung des Faches Informatik an allen Schulformen und „unbürokratisch ergänzende Möglichkeiten für den ehrenamtlichen Einsatz oder die temporäre Beschäftigung sogenannter Praxis-Lehrer“ aus der beruflichen und akademischen Praxis begründen. Von christlich geprägter Werteerziehung, einem typischen Anliegen konservativer Bildungspolitik, fehlt jede Spur.

Die ökonomische Schlagseite des verengten und zudem auf Fächer und Fachlichkeit verkürzten Bildungsbegriffs der Koalitionsvereinbarung wird besonders deutlich durch den Vergleich mit der menschenrechtlichen Definition von inklusiver Bildung. In seinen Allgemeinen Bemerkungen zum Recht auf inklusive Bildung stellt der UN-Fachausschuss fest, dass „Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten und an dem Bewusstsein für die Würde und das Selbstwertgefühl des Menschen, die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und menschlichen Vielfalt“ auszurichten ist.

Menschenrechtlich geht es nicht um die Verwertbarkeit von Bildung und in dieser Logik um die Anpassung des Menschen an wirtschaftliche Entwicklungen. Bildung hat mit ihrer personalen Orientierung der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen, seiner Selbstachtung und seiner Achtung der Menschenrechte zu dienen.

Wettbewerbliche Ansätze für die neoliberale Bildungsreform

Das Versprechen der neoliberalen Bildungsreform verheißt bessere Leistungen und Chancengleichheit durch mehr Wettbewerb und Privatisierung im Bildungssystem. Dazu finden sich entsprechende Ansätze auch in der Koalitionsvereinbarung.

30  Talentschulen mit „exzellenter Ausstattung und modernster digitaler Infrastruktur in Stadtteilen mit den größten sozialen Herausforderungen“ sollen als „Leuchtturmprojekte der schulischen Bildung eine positive Wirkung auf die Qualitätsentwicklung in allen Schulen entfalten“. Auch privates Engagement und Stiftungsmittel sollen dafür eingesetzt werden. Es ist zwar nicht ersichtlich wie mit der Privilegierung von 30 Schulen die Situation der vielen sozialen Brennpunktschulen in NRW verbessert werden kann, aber sie bieten sich als Türöffner für Privatisierung an, die auf der Agenda der neoliberalen Bildungsreform und der FDP ganz oben steht.

Ungeachtet der Tatsache, dass im letzten Jahrzehnt die Privatschulquote und damit auch Tendenzen der sozialen Segregation und Ungleichheit im stark sozial zergliederten öffentlichen Schulsystem in NRW gewachsen sind, werden Schulen in freier Trägerschaft ausschließlich als Bereicherung der Schulvielfalt wahrgenommen. Eine „angemessene Finanzierung“ soll sichergestellt werden und zudem soll „bei Landesprogrammen eine grundsätzlich wirkungsgleiche Übertragung auf Schulen in freier Trägerschaft“ gewährleistet werden. Das neoliberale Anliegen, Schulen in öffentlicher und privater Trägerschaft gleichzustellen, um mehr Wettbewerb zu erzeugen, ist hier als Absicht unverkennbar.

Für die freie Schulwahl – den Dreh-und Angelpunkt neoliberaler Bildungsreformen – hat die schwarz-gelbe Koalition von 2005 bis 2010 schon Vorarbeit geleistet, indem sie die verbindlichen Grundschulbezirke aufhob. Seitdem ist die soziale Durchmischung in Grundschulklassen, eine wichtige Voraussetzung für gutes Lernen, in sozial belasteten Stadtteilen weiter zurückgegangen. Als Pendant zur freien Schulwahl will die Koalition jetzt Transparenz für Eltern herstellen, indem Qualitätsberichte und Zielvereinbarungen durch die Schulen im Internet veröffentlicht werden. Bisher geschah dies nur auf freiwilliger Basis. Damit steht dem Schulranking für einen sozial selektiv wirkenden Wettbewerb der Schulen um Schülerinnen und Schüler eigentlich nichts mehr im Wege.

Die Stärkung der „Freiheit und Eigenverantwortung“ der Schulen durch ein angekündigtes „Schulfreiheitsgesetz“ muss im Kontext der neoliberalen Tendenzen in der Koalitionsvereinbarung eher bedenklich stimmen.

Das hohe Lied der „Schulvielfalt“

Die „Schulvielfalt“ wird ganz im Sinne der CDU gefeiert und mit den Eltern begründet, die sich „vielfältige und qualitativ hochwertige Schulangebote wünschen, „weil sich auch die individuellen Neigungen der Kinder unterscheiden“. Die sozial selektive und segregierende Wirkung der Vielgliedrigkeit in NRW bleibt dabei unhinterfragt.

Der aus eigener Kraft nicht überlebensfähigen Hauptschule soll mit der Zuweisung bestimmter Funktionen wieder künstlich Leben eingehaucht werden. Durch die Kooperation mit den beruflichen Schulen und der Wirtschaft soll die Berufsorientierung intensiviert werden. „Weitere zentrale Ziele sind die konzeptionelle Weiterentwicklung der Integration von praktisch interessierten Flüchtlingen und des inklusiven Unterrichts mit Blick auf die Berufsorientierung.“ Eine Schulform, die in ihrer Schülerzusammensetzung vielerorts den Charakter einer Förderschule angenommen hat, soll also allen Ernstes das „Sammelbecken“ für geflüchtete und zieldifferent lernende Schülerinnen und Schüler werden.

Die geplante Profilierung der anderen Schulformen ist keine Überraschung. Die Realschule wird in ihrer Berufsorientierung gestärkt, die Gesamtschule wird zum Träger der Inklusion erklärt und das Gymnasium wird durch den Ausbau der Kooperation mit Hochschulen in seinem Bildungsauftrag unterstützt, zur Studierfähigkeit zu führen.

Die bekannte Lindner-Parole, dass das Gymnasium nicht weiter benachteiligt werden dürfe, ist zwar in keiner Weise seriös belegt und belegbar, aber sie hat in den Koalitionsvertrag Eingang gefunden. Für die Privilegierung der Gymnasien werden keine Kosten gescheut. Gymnasien dürfen zwischen G9 und G8 wählen und sollen bei der Ausgestaltung und den Umstellungsprozessen zusätzlich unterstützt werden. Man wird mit Spannung beobachten, in welchen Bereichen der Bildungspolitik Haushaltsmittel zugunsten des gymnasialen Umbauprogramms gekürzt werden. Selbstverständlich werden die Gymnasien nicht darauf verpflichtet, zieldifferent lernende Schülerinnen und Schüler aufzunehmen.

Schwere Verstöße gegen Grundsätze inklusiver Schulentwicklung

Nach der menschenrechtlichen Auslegung des UN-Fachausschusses ist die Inklusion der „Prozess einer systemischen Reform, die einen Wandel und Veränderungen in Bezug auf den Inhalt, Lehrmethoden, Ansätze, Strukturen und Strategien im Bildungsbereich verkörpert, um Barrieren mit dem Ziel zu überwinden, allen Lernenden einer entsprechenden Altersgruppe eine auf Chancengleichheit und Teilhabe beruhende Lernerfahrung und Umgebung zuteilwerden zu lassen, die ihren Möglichkeiten und Vorlieben am besten entspricht“. Dagegen wird Inklusion von der Regierungskoalition nur als ein Programmpunkt neben vielen anderen abgehandelt und abgetan.

Zukünftig soll die Bildung inklusiver Lerngruppen an allgemeinen Schulen an die Erfüllung und Sicherung von Qualitätsstandards als Voraussetzung gebunden werden. Das klingt nur vordergründig positiv. Insgesamt wird die inklusive Entwicklung durch den Beschluss blockiert, nicht nur an dem Doppelsystem der sonderpädagogischen Förderung festhalten zu wollen, sondern zur „akuten Sicherung des Förderschulangebots“ auch kleine Förderschulen, die unter die Verordnung über die Mindestgrößen fallen, in ihrem Bestand zu sichern. Eine Qualitätsverschlechterung für die bestehenden Angebote des Gemeinsamen Lernens ist somit programmiert. Mit der Zusage, die kommunalen Schulträger bei der Entwicklung „regionaler Förderschulentwicklungspläne“ unterstützen zu wollen, stellt die Koalition die menschenrechtliche Verpflichtung zur Entwicklung eines inklusiven Schulsystems vollends auf den Kopf.

Nichts dazugelernt

Insgesamt soll das Rad der Entwicklung in NRW zurückgedreht werden. Die Kompetenzzentren, die die frühere schwarz-gelbe Landesregierung als Pilotprojekt entwickelt hatte, sollen für Netzwerkarbeit im Sozialraum wiederbelebt werden. Sie waren unter Rot-Grün nicht fortgeführt worden, weil sie als nicht zielführend für die inklusive Entwicklung an allgemeinen Schulen erkannt wurden. Begegnungs- und Gestaltungsmöglichkeiten sollen eröffnet werden durch die Bildung von  Förderschulgruppen an allgemeinen Schulen und allgemeinbildenden Angeboten an Förderschulen. Mit der Bildung von Förderschulgruppen an allgemeinen Schulen wird die alte Konstruktion der „sonderpädagogischen Fördergruppe“ ins Spiel gebracht, die von Rot-Grün wegen ihres diskriminierenden Charakters ad acta gelegt worden war.

Das Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs soll neu geregelt werden und nach „neuesten wissenschaftlichen Kenntnissen“ überarbeitet werden. Auch wenn es nicht explizit gesagt wird, ist zu erwarten, dass die systemische Zuweisung von sonderpädagogischen Ressourcen über das Stellenbudget durch die individuelle, an das einzelne Kind gebundene Stellenzuweisung wieder ersetzt wird. Was sich hinter den „neuesten wissenschaftlichen Kenntnissen“ verbirgt, bleibt mit berechtigter Skepsis abzuwarten.