Die neue Landesregierung will NRW zur ersten klimaneutralen Industrieregion machen. Wie passt zu der zukunftsgerichteten Wirtschaftspolitik der rückwärtsgewandte Schulkonsens, der mit dem hierarchisch gegliederten Schulsystem seinen „Frieden“ macht und mit der Vorstellung einer inklusiven Gesellschaft nicht kompatibel ist?

Basis für die Bildungspolitik der schwarz-grünen Landesregierung in der neuen Legislaturperiode soll der 2011 zwischen SPD, CDU und den Grünen ausgehandelte Schulkonsens sein, der auch als „Schulfrieden“ bezeichnet wird und offiziell 2023 ausläuft. Die Bestandsgarantie für die „ausgezehrte“ Hauptschule wurde mit dem Schulkonsens aus der Landesverfassung entfernt und stattdessen das gegliederte Schulsystem und die integrierten Schulformen als gleichwertige Bestandteile eines vielfältigen Schulwesens verfassungsmäßig abgesichert. Wörtlich heißt es: „Das Land gewährleistet in allen Landesteilen ein ausreichendes und vielfältiges öffentliches Bildungs- und Schulwesen, das ein gegliedertes Schulwesen und integrierte Schulformen sowie weitere andere Schulformen umfasst.“ Mit den „anderen Schulformen“ sind neben Berufs- und Weiterbildungskollegs auch Förderschulen gemeint, „soweit sie trotz Inklusion noch gebraucht werden“. 

Falsche Weichenstellung

Die Angebotspalette weiterführender Schulen wurde um die Sekundarschule als fünfte Schulform neben den drei gegliederten Schulformen und der integrierten Gesamtschule erweitert – gegen den bundesweiten Trend zur Reduktion der Mehrgliedrigkeit. Den kommunalen Schulträgern soll ohne landesseitige Steuerung ermöglicht werden, sich das passende Angebot nach den örtlichen Bedarfen zusammenzustellen. 

Die seit 2009 für Deutschland und die Bundesländer verbindlich geltende völkerrechtliche Verpflichtung aus Art. 24 UN-Behindertenrechtskonvention, ein inklusives Schulsystem progressiv zu entwickeln, wurde im Schulkonsens völlig ignoriert. Die dringende Frage, wie in einem auf Homogenisierung und Leistungsselektion ausgerichteten Schulsystem inklusive Bildung als Menschenrecht überhaupt umgesetzt werden kann, wurde schlichtweg ausgeblendet. Die Umsetzung der schulischen Inklusion wurde vollständig vom Schulkonsens abgekoppelt.

Folgen der „Schulvielfalt“

Als Ergebnis lässt sich nach mehr als zehn Jahren festhalten, dass der „Schulfrieden“ in NRW eine verwirrende Vielfalt kommunaler Schullandschaften hervorgebracht hat, die im Vergleich zu allen anderen Bundesländern beispiellos ist. Die Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule NRW (GGG), Verband für integrierte Schulen, hat die Herausbildung regionaler Disparitäten in der Schulentwicklung seit langem als Problemfeld für NRW identifiziert und die kommunalen Schulangebote als „Flickenteppich“ ohne Vergleichbarkeit und landespolitische Steuerung entschieden kritisiert. Schon 2015 fiel ihre Bewertung zu den Folgen des Schulkonsenses deprimierend aus. In einer Analyse unter dem Titel „Wer steuert und wohin? Schulentwicklung in NRW“ lautet das Fazit: „Ausgehend von den Erfahrungen mit dem dreigliedrigen Schulsystem ist festzuhalten: Je zersplitterter (vielfältiger) ein Gesamtsystem ist, desto stärker bildet sich eine Hierarchie zwischen den Schulformen heraus, desto stärkere Effekte der sozialen Segregation und Selektion werden erzeugt, desto größer ist die „Restschul“-Problematik und desto weniger leistungsfähig ist das Gesamtsystem“ (Quelle: „Integrierte Schulen Aktuell“, GGG NRW, Heft IV 2015).

Soziale Randständigkeit

Es gibt eine dramatische „Restschul“-Problematik um die Hauptschule, die der Schulkonsens nicht gelöst, sondern eher zugespitzt hat. Wo Schulträger ihre Hauptschule noch vorhalten, ist sie nicht nur Endstation für Schüler:innen, von denen sich Gymnasien und Realschulen durch Abschulung „entlasten“. Ihre soziale Randständigkeit im System ist noch offensichtlicher geworden, seitdem ihr die hauptsächliche Zuständigkeit für die Aufnahme geflüchteter Schüler:innen zukommt.

Wo Schulträger die Hauptschule nicht mehr anbieten, fehlt den Gymnasien und Realschulen der Ort für die Abschulung von als „ungeeignet“ eingestuften Schüler:innen. Die integrierten Sekundarschulen und Gesamtschulen werden dann systemwidrig als Ersatz für die Hauptschule in Anspruch genommen, obwohl sie nicht Teil des gegliederten Schulsystems sind. Damit werden in der öffentlichen Wahrnehmung integrierte Schulformen gegenüber dem Gymnasium als ungleichwertige Schulangebote deklassiert.

Die Hierarchisierung der Schulformen und die damit verbundenen sozialen Segregationseffekte haben eindeutig zugenommen. Sie zeigen sich in der Sonderstellung des Gymnasiums bei der Bewältigung gesellschaftlicher Aufgaben. Es ist nicht verpflichtet, sich an der Inklusion von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich des Lernens und der Geistigen Entwicklung zu beteiligen und wird auch kaum für die Aufnahme und Förderung von geflüchteten Schüler:innen in Anspruch genommen.

Schüler:innen, die als „ungeeignet“ für die Abiturlaufbahn eingestuft werden, werden mit steigender Tendenz „aussortiert“. Dagegen hat die GGG in ihrer Abiturstudie 2020 nachweisen können, dass fast die Hälfte der Schulformwechsler:innen vom Gymnasium das Abitur an Gesamtschulen abgelegt haben. 

Kein Ende der Abschulung in Sicht 

„Alle Kinder sind an allen Schulen willkommen und werden zu ihren bestmöglichen Abschlüssen begleitet.“ Dieser Satz im „Zukunftsvertrag“ der schwarz-grünen Koalition klingt wie die Einleitung zu einem Abschulungsverbot oder – positiv formuliert – zu einer neuen „Kultur des Behaltens“. Genau dafür hatte die von der damaligen Schulministerin Sylvia Löhrmann einberufene Bildungskonferenz schon 2012 mehrheitlich votiert. Über 120 Vertreter:innen von Verbänden, Institutionen und den im Landtag vertretenen Parteien hatten empfohlen, alle Schulen sollten einmal aufgenommene Schüler:innen bis zum ersten Abschluss der Sekundarstufe behalten. 

Der vollmundige Satz hält jedoch nicht, was er verspricht. In weichgespülter Rhetorik wird die Aussage verpackt, dass Abschulungen weiterhin unverzichtbar sind. „Erzwungene Schulformwechsel wollen wir auf das pädagogisch notwendige Maß reduzieren.“ Was der Maßstab für das „pädagogisch notwendige Maß“ sein soll, bleibt wohl den Gymnasien überlassen. Der Philologenverband beklagt seit langem, dass als Folge der „freien Elternwahl“ zu viele „überforderte“ Kinder an den Gymnasien aufgenommen werden. Mit einem Verweis auf das „Kindeswohl“ wird sich auch weiterhin die bewährte Abstiegsselektion von „oben nach unten“ fortführen lassen.

Keine inklusive Schulentwicklung am Gymnasium   

Wenn der Koalitionsvertrag verspricht, dass die Gymnasien freiwillig mit Schulkonferenzbeschluss auch Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufnehmen dürfen, die nicht nach dem gymnasialen Lehrplan gefördert werden, dann ist das mit dem Grundgedanken von Inklusion und einer inklusiven Schulentwicklung nicht vereinbar. Während Inklusion verlangt, dass das System sich dem einzelnen Kind anpasst, darf sich hier das Gymnasium aussuchen, welche Kinder willkommen sind und welche nicht zur Institution passen. 

Außerdem stellt der Koalitionsvertrag scheinheilig in Aussicht, was die Gymnasien schon heute dürfen. Der Erlass des Schulministeriums zur „Neuausrichtung der Inklusion“ von 2018 enthält kein Verbot zieldifferenter Bildungswege am Gymnasium. Die darin enthaltene Feststellung, dass in der Regel am Gymnasium zielgleich gefördert wird, wurde von Gymnasien jedoch genutzt, um aus dem Inklusionsprogramm „auszusteigen“, und mit unzureichenden Rahmenbedingungen begründet.

Mit der Formel der Freiwilligkeit ist nichts gewonnen. Die Landeselternschaft der Gymnasien hat sich zu der Frage eindeutig vor der Landtagswahl positioniert und „grundsätzlich nur eine zielgleiche Inklusion an Gymnasien“ gefordert. Nur mit der Verpflichtung, dass auch das Gymnasium seinen vollen Anteil an der Inklusion übernehmen muss, kann die einseitige Inanspruchnahme der integrierten Schulformen für die Inklusion beendet werden. Ohne inklusive Schulentwicklung an allen Schulformen bleibt die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems Rhetorik.    

Der „faule Frieden“ mit dem Förderschulsystem 

NRW hat sich mit dem „Schulfrieden“ auf den Weg begeben, dem sog. Elternwahlrecht die Entwicklung des Förderschulsystems zu überlassen. Als Fazit lässt sich nach 13 Jahren festhalten: Es gibt keinen erkennbaren Rückbau des Förderschulsystems, wie von der UN-BRK gefordert. Das sonderpädagogische Doppelsystem hat angesichts des nicht erfolgten sonderpädagogischen Ressourcentransfers aus den Sonderschulen in die Regelschulen zu einer erheblichen Ungleichwertigkeit der Angebote in Regel- und Förderschulen geführt und das Elternwahlrecht zu einem Scheinwahlrecht gemacht.

Mit dem Regierungswechsel von Rot-Grün zu Schwarz-Gelb 2017 hat es erhebliche Rückschritte in der inklusiven Schulentwicklung gegeben. Mit der sog. Bündelung knapper sonderpädagogischer Ressourcen im Bereich der weiterführenden Schulen wird das Angebot des Gemeinsamen Lernens ausgedünnt und auf Gesamtschulen konzentriert, während das Gymnasium außen vor bleibt. Damit ist NRW nicht auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem, sondern zu inklusiven Schwerpunktschulen. In Rheinland-Pfalz haben diese eindeutig den Charakter von Brennpunktschulen angenommen, wie Steinmetz/ Wrase in ihrer Studie darstellen. Insgesamt sehen die beiden Autoren auch für NRW bei der Umsetzung schulischer Inklusion „ernstzunehmende Hinweise auf eine systematische Verletzung des Konventionsrechts aus Art. 24 UN-BRK“. 

Dass es bezüglich des Einsatzes von Sonderpädagog:innen an Regelschulen eine Zusammenarbeit mit der Monitoring-Stelle geben soll, klingt gut und richtig. Aber was ist von einer Koalition zu erwarten, die selbst segregierte Förderschulen als inklusive Einrichtungen bezeichnet? Die Kritik der Monitoring-Stelle am Deutschen Institut für Menschenrechte „zur gleichbleibend hohen Zahl segregierender Beschulung“ und die daraus abgeleiteten Empfehlungen an die Landesregierung werden nicht aufgegriffen.

Negative Schulstruktureffekte – Bremse für gesellschaftliche Entwicklung  

Die Landesregierung darf sich nicht länger mit ihrer „Ermöglichungspolitik“ vor ihrer bildungspolitischen Gesamtverantwortung drücken. Sie muss über die Zukunft der Hauptschulen im Land entscheiden, die als armutssegregierte Schulen ihren Schüler:innen nicht einmal mal mehr den Erwerb des Hauptschulabschlusses zusichern können. Dabei sind Lösungen zu finden, die mit der Gesamtperspektive und Gesamtstrategie für eine inklusive Schulentwicklung vereinbar sind und nicht dazu dienen, den Gymnasien und Realschulen auch weiterhin Abschulungen zu „ermöglichen“.

Das Narrativ von der „Vielfalt“ der Schulformen will die soziale Ungleichheit unkenntlich machen, die schulstrukturell (re-)produziert wird. Die Vielfalt der Schulformen stärkt keineswegs die Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems und die Chancengleichheit, wie der Bildungsbericht Ruhr für das Ruhrgebiet beispielhaft ausweist. Der Zunahme an Abgänger:innen mit hochqualifizierten Schulabschlüssen steht die Zunahme von Schulabgänger:innen gegenüber, die ohne oder nur mit dem Hauptschulabschluss nach Klasse 9 abgehen. Für die zukünftig benötigte Qualifikationsstruktur ebenso wie für den sozialen Zusammenhalt ist diese „Spreizung“ der Schulabschlüsse äußerst problematisch und konfliktreich. 

Mit inklusiver Schulentwicklung Zukunft schaffen

Dass die Zukunft nicht in der sozialen Segregation liegt, sondern Inklusion der Schlüssel für die gesellschaftliche Entwicklung ist, hat die UNESCO 1994 in der Erklärung von Salamanca zum Programm gemacht und eine inklusive Schule für alle gefordert. 1996 hat sie das Lernen, miteinander zu leben, als eine der vier grundlegenden Säulen für die Bildung im 21. Jahrhundert herausgestellt. Die Vollversammlung der Vereinten Nationen hat mit der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention inklusive Bildung 2006 zu einem fundamentalen Menschenrecht für alle Lernenden erhoben und Menschen mit Behinderungen ausdrücklich einbezogen. Für die erfolgreiche Gestaltung des gesellschaftlichen Transformationsprozesses, den die Agenda 2030 der Vereinten Nationen zum Erhalt des Planeten und eines menschenwürdigen Lebens für alle verlangt, spielt inklusive Bildung eine Schlüsselrolle für soziale Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit.

Deshalb braucht es die Entwicklungsperspektive einer inklusiven Schule für alle in einem eingliedrigen inklusiven Schulsystem ohne Aussonderung mit durchgängigem gemeinsamem Lernen mindestens bis zum Ende der Vollzeitschulpflicht. Das Modell dafür liefert die PRIMUS-Schule. Wie die Kultusministerkonferenz bleibt auch die schwarz-grüne Koalition noch weit hinter dem menschrechtlichen Verständnis von Inklusion und inklusiver Bildung zurück.

Evaluierung des Schulkonsenses  

Es ist erstaunlich, was alles laut Koalitionsvertrag evaluiert werden soll. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet der Schulkonsens als Grundlage für bildungspolitisches Handeln davon ausgenommen wird. In Bremen hat man dagegen eine unabhängige wissenschaftliche Expertenkommission damit beauftragt, die Wirkungen des „Bremer Schulfriedens“ von 2009 zu überprüfen und Empfehlungen für die weitere Schulentwicklung abzugeben. 

Angesichts der problematischen Effekte des Schulkonsenses in NRW und der ungelösten strukturellen Fragen für ein zukunftsfähiges und menschenrechtskonformes Schulsystem ist ein ähnliches Vorgehen dringend geboten. Im Hinblick darauf, dass der Schulfrieden von 2011 von SPD, CDU und Grünen ausgehandelt wurde und 2023 ausläuft, gibt es einen guten Grund für die schwarz-grüne Koalition, sich zeitnah mit der SPD über ein solches Vorhaben zu verständigen.

Brigitte Schumann                 08/22