von Brigitte Schumann

Dies ist die zentrale Botschaft des dreitägigen Kölner Kongresses von mittendrin e.V. und die nachdrückliche Forderung der Monitoringstelle am Deutschen Institut für Menschenrechte, die mit zwei Referenten teilnahm.

Auf dem bundesweiten Kongress „Eine Schule für alle - Inklusion schaffen wir“ vom 8.-10. September an der Universität zu Köln, die der Kölner Elternverein mittendrin e.V. veranstaltete, wurde in einem breit angelegten Workshop-Angebot dargestellt, wie Schulen sich den Anforderungen der Inklusion stellen, ohne die bestehenden Probleme unter den derzeitigen bildungspolitischen Rahmenbedingungen schönzureden oder gar zu verschweigen. Allgemein wurde die Sorge geäußert, dass die neue Landesregierung mit ihrer angekündigten „Neuausrichtung“ der Inklusionspolitik die Bedingungen für eine inklusive Schulentwicklung verschlechtert bzw. verhindert.   

Klare Ansage von der Monitoringstelle  

In einer Podiumsdiskussion forderte Dr. Valentin Aichele, Leiter der Monitoringstelle, die Debatte über Inklusion zu versachlichen. „Es gibt erfolgreiche schulische Inklusion in Deutschland. Anderslautende Rhetorik oder praktische Schwierigkeiten in einzelnen Ländern dürfen nicht dazu führen, dass praktische Fortschritte negiert werden oder die Inklusion gar für gescheitert erklärt wird.“ Im Mittelpunkt müsse die Umsetzung des Rechts auf Bildung für alle in einem inklusiven Schulsystem stehen. „Denn das Recht auf inklusive Bildung ist ein Menschenrecht“, so Aichele. 

Mit Verweis auf die Allgemeine Bemerkung Nr.4 über das Recht auf inklusive Bildung, die der zuständige UN-Fachausschuss für die Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) 2016 verabschiedet hat, stellte Aichele fest: „Das deutsche Sonderschulsystem muss abgebaut werden und auslaufen. Die UN-BRK sieht kein Elternwahlrecht vor. Das Recht auf inklusive Bildung ist das Recht des Kindes.“ Schon 2010 habe die Monitoringstelle diese Rechtsposition in einer Empfehlung an die KMK bezogen. Das Wahlrecht der Eltern sei eine „politische Konstruktion“, die im Widerspruch zur UN-BRK stehe.

Einrichtung des NRW Monitorings 

Dass NRW noch unter der rot-grünen Landesregierung 2017 die Monitoringstelle beauftragt hatte, die Begleitung und Überwachung der Umsetzung der UN-BRK in NRW zu intensivieren, überraschte so manchen Kongressteilnehmer. Dr. Susann Kroworsch, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Monitoringstelle, stellte sich in ihrem Vortrag als Zuständige für das Monitoring in NRW vor. Sie erläuterte den Stellenwert der Allgemeinen Bemerkung und bezeichnete sie als eine nicht rechtsverbindliche, aber international anerkannte und maßgebliche Auslegung des Rechts auf inklusive Bildung für die Vertragsstaaten. 

An die Adresse der Landesregierung richtete sie auf der Basis der Allgemeinen Bemerkung konkrete Forderungen. Sie mahnte die Auflösung der Förderschulstrukturen, die Umschichtung der Ressourcen, die Einführung umfangreicher Qualitätsstandards sowie die Standards zur Erfassung und Bewertung der Umsetzung an. Auch die Abschaffung des Ressourcenvorbehalts stand auf der Liste ihrer Forderungen. Das von der Landesregierung verhängte Moratorium der Förderschulschließung dürfe nicht „von Dauer“ sein. Um Vertrauen zurückzugewinnen, müssten Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrkräfte sowie andere Berufsgruppen stärker in den Veränderungsprozess einbezogen werden. 

Policy making in Kanada als Vorbild

Prof. Annedore Stein von der Evangelischen Hochschule in Darmstadt zeigte in dem Abschlussvortrag auf, mit welcher Einstellung die kanadische Politik an die Herausforderung der Inklusion bei ihrer Einführung vor Jahrzehnten herangegangen war. Als sich Probleme bei der Implementierung zeigten, habe die Politik nicht das Ziel aufgegeben, sondern sich gefragt, wie man es besser machen kann.

Ein wichtiger Meilenstein in der Inklusionsentwicklung war nach Stein die Einrichtung einer Sonderkommission, die 1981 von der Politik beauftragt wurde, „obstacles“, also Hindernisse für die Inklusion zu identifizieren und Lösungen vorzuschlagen. Das Ergebnis war der „Obstacle Report“. Als weiteres Beispiel für die kanadische Politikgestaltung nannte sie eine politisch veranlasste Untersuchung zur Stärkung der Inklusion, die 2013 in dem Bundesstaat New Brunswick durchgeführt wurde, um die langjährige Praxis genau unter die Lupe zu nehmen. An die anwesende Schulministerin Yvonne Gebauer adressiert, fügte sie abschließend hinzu, dass die geplanten Organisationsformen einer „differenzierten Inklusion“ in NRW dem unteilbaren Menschenrecht auf inklusive Bildung widersprächen.  

Von der Schulministerin nur Rhetorik   

Nur auf ein Grußwort kam die Ministerin vorbei, die eigentlich für die Beteiligung an der Abschlussdiskussion mit den Vertreterinnen und Vertretern der Landtagsfraktionen, der Landesschülerschaft und Elternschaft eingeladen worden war. Freundlich, aber unbeeindruckt reagierte sie auf den Vortrag und die Kritik von Stein. 

Mit dem Bekenntnis zum Menschenrecht auf inklusive Bildung in einer „Neuausrichtung“ wiederholte sie bekannte Ankündigungen. Sie bekräftigte das Elternwahlrecht und den flächendeckenden Erhalt der Förderschulen, weil die Menschen vielfältig seien. Sie versprach eine qualitative Verbesserung der schulischen Inklusion durch die Einrichtung von Schwerpunktschulen. Angesichts des Mangels von Sonderpädagogen müsse über den Einsatz von anderen pädagogischen Fachkräften nachgedacht werden. Außerdem stellte sie eine landesweite Bestandsaufnahme der inklusiven Entwicklung in Aussicht, um Transparenz über die sehr unterschiedliche Situation im Land herzustellen. 

Reaktionen aus dem Podium 

Fakten zu Inklusion seien von der ehemaligen Schulministerin längst erhoben und in einem Datenreport veröffentlicht worden, so Sigrid Beer von den Grünen. Eva Thoms, die 1. Vorsitzende des Elternvereins mittendrin, sorgte durch ihre geschickte Moderation dafür, dass sich alle Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer fleißig und einmütig an der Frage beteiligten, was denn über nackte Zahlen hinaus in einer qualitativen Bestandsaufnahme ermittelt werden sollte. 

Genannt wurden Stichworte wie Zufriedenheit der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrerschaft, Art der Fortbildungsangebote, die Konzeptionen für das Gemeinsame Lernen und die soziale Belastung der Schulen. Auch bei der Frage von verpflichtenden Fortbildungen, insbesondere für Schulleitungen, schien man sich einig zu sein. Fortbildungen müssten prozessbegleitend angelegt werden, um Nachhaltigkeit zu erzielen. Schüler- und Elternvertreter sahen sich zu wenig berücksichtigt bei den Veränderungsprozessen und plädierten für die partizipative Gestaltung des Inklusionsprozesses. 

Bei der Frage des Elternwahlrechts und des Erhalts der Förderschulen hatten Grüne und SPD offensichtlich dazu gelernt und bekannten sich zum Recht des Kindes auf inklusive Bildung, während der Vertreter und die Vertreterin der  Regierungsfraktionen sich da nicht anschließen wollten. Das wurde mit einem harschen Kommentar von Prof. Jutta Schöler quittiert. Das Elternwahlrecht sei Ausdruck politischer Verlogenheit, weil es just an die Stelle der Zwangszuweisung zur Sonderschule trat, als die UN-BRK das Recht des Kindes auf Nichtaussonderung einforderte.    

Pablo Pineda als Schirmherr 

Pablo Pineda, der erste Träger des Down-Syndroms  mit einem universitären Abschluss, wurde als Schirmherr der Veranstaltung am zweiten Kongressabend mit seinem Vortrag in den Hörsaal geschaltet und dort begeistert gefeiert. Er machte klar, welch ein Unrecht es ist, Menschen „mit besonderen Begabungen“ an die Stereotypen und negativen Erwartungen der Gesellschaft anzupassen. Der Begriff „Behinderung“ müsse aus dem Wortschatz gestrichen werden. Seine eigene Entwicklung verdanke er seinen Eltern, die nie an seiner Lernfähigkeit gezweifelt hätten. Seine Feststellungen „Wir wollen in der Gesellschaft die Nr. 1 sein, nicht mehr, aber auch nicht weniger“ oder „Ohne Menschen mit besonderen Begabungen verkümmert die Gesellschaft“ wurden mit langanhaltendem Applaus des Publikums erwidert.   

Eine für alle!

Immer wieder wurde im Rahmen der vielen Diskussionen deutlich, dass Inklusion in einem selektiven, gegliederten Schulwesen eine Paradoxie bleiben muss, weil die systemischen Homogenitätsbestrebungen der Akzeptanz und der Anerkennung von Vielfalt entgegenwirken. Daher war es schwerlich nachvollziehbar, dass Aichele die Transformation zu einer Schule für alle in einem eingliedrigen Schulsystem als eine politische Entscheidung bezeichnete, die nicht als menschenrechtliche Verpflichtung aus der UN-BRK abgeleitet werden könne. Dagegen überzeugte Prof. Uwe Becker von der Evangelischen Hochschule in Bochum mit seiner „Inspektion der Innenräume“, in die Kinder mit Behinderungen aufgenommen werden sollen. Er plädierte dafür, die menschenrechtswidrigen Ausgrenzungen innerhalb des Systems zu thematisieren und perspektivisch zu überwinden.

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