Obwohl das Schulministerium unter politischem Druck vor der Landtagswahl entschieden hat, den PRIMUS-Schulversuch an den fünf Standorten in NRW für weitere drei Jahre bis 2027/28 zu verlängern, will der Schulträger in Viersen ungeachtet der Folgen vorzeitig aussteigen.

Die Viersener Schulverwaltung will die Verlängerung nicht akzeptieren und die PRIMUS-Schule, und damit das gemeinsame Lernen von Klasse 1 bis 10, zum Schuljahr 2024/25 auslaufen lassen. Damit soll der Erhalt der örtlichen Hauptschule gestärkt werden, die kaum von Eltern ausgewählt wird und bis Klasse 7 knapp einzügig ist. Die Verwaltung stützt sich in ihrer Schulentwicklungsplanung auf gutachterliche Empfehlungen   des Bildungsplanungsunternehmens biregio.

Eine entsprechende Vorlage der Verwaltung soll am 19. Mai im Schulausschuss und danach im Rat beschlossen werden. Begründet wird dieser Beschluss mit rückläufigen Anmeldungen für die PRIMUS-Schule. Die Ratsmehrheit von CDU und SPD hat ihre Zustimmung gegen die Stimmen der Grünen und der Linken signalisiert. Die durchgehend zweizügige PRIMUS-Schule, die im Gegensatz zu allen anderen Schulen im Ort ausschließlich Schüler: innen aus Viersen aufnehmen darf,  stemmt sich mit Eltern-, Schüler- und Lehrerschaft vehement dagegen und wird in ihrem Protest von den anderen PRIMUS-Schulen in Minden, Münster, Schalksmühle und Titz unterstützt. Eine Elterninitiative ist mit einem Bürgerbegehren gegen den Plan in den Startlöchern.

Versagen des Schulträgers

Der Schulträger in Viersen versucht mit Verweis auf rückläufige Schülerzahlen den Eindruck zu erwecken, der Schulversuch werde nicht gebraucht und sei gescheitert. Ganz anders liest sich der Sachverhalt in den Berichten der Wissenschaftlichen Begleitung zum Schulversuch. Schon im Bericht über die erste Phase der wissenschaftlichen Begleitforschung von 2014 bis 2017 wurde kritisiert, dass die Unklarheit über die langfristige Unterbringung der Schüler:innen die Gründungsidee bedrohe. Der Schulversuch wirke nicht stabil und nachhaltig verortet, sondern eher wie ein „schulischer Testballon“, was dazu führe, dass Eltern ihre Kinder nach Klasse 4 abmelden. Der Bericht über die zweite Phase von 2017 bis 2020 zeigt, dass der Schulträger zwischenzeitlich nichts unternommen hat, um die Rahmenbedingungen wesentlich zu verbessern.

Zukunftsweisende PRIMUS-Konzeption

2014 wurde schulrechtlich festgelegt, dass das Schulministerium an bis zu 15 Schulen erproben kann, ob durch den Zusammenschluss von Primarstufe und Sekundarstufe I innerhalb einer Schule „die Chancengerechtigkeit und die Leistungsfähigkeit des Schulwesens erhöht werden und die Schülerinnen und Schüler dadurch zu besseren Schulabschlüssen geführt werden können“

Die wissenschaftliche Begleitung stellt in ihrem zweiten Bericht (2017-2020) als Antwort darauf fest: „An allen PRIMUS-Schulen lässt sich erkennen, dass die Bildungsabschlüsse der Schüler*innen die Schulwahlempfehlungen deutlich übertreffen. Im Verhältnis zur Schulwahlempfehlung nach Jahrgang 4 haben die Schüler*innen tendenziell die nächsthöheren Abschlüsse erzielt.“  

Ausführlich wird darauf verwiesen, dass die lediglich in Viersen vorhandenen Entwicklungsprobleme des Schulversuchs und der daraus entstandene Imageschaden für PRIMUS sich nicht auf den Schulversuch selbst zurückführen lassen, „sondern auf Verwerfungen in der kommunalen Schulentwicklung vor Ort“.

Zweifelhafte Rolle von biregio

Das Unternehmen biregio hebt im Internet seine jahrzehntelange Erfahrung mit Schulentwicklungsplanung hervor und erklärt: „Wir stoppen nicht bei lokalen Schullandschaften. (…) Aus pädagogischer Sicht fließen in unsere Arbeit zukunftsweisende Konzepte zur „Schule und Unterricht der Zukunft“ ein“.

Dieser Anspruch wird verfehlt. Wie kann es sein, dass die nur mühsam am Leben erhaltene Hauptschule als „Auffangbecken“ für Schüler:innen, die das Gymnasium und die Realschule nicht gebrauchen können, als Schule der Zukunft empfohlen und der PRIMUS-Schule vorgezogen wird? Im Zentrum von PRIMUS steht das anspruchsvolle und zukunftsweisende Konzept, „die äußere Trennung von Primar- und Sekundarstufe zu überwinden, auf diese Weise, den Übergang zu entdramatisieren, und damit kontinuierliche Schulbiografien zu ermöglichen sowie inklusive und individualisierende Unterrichtsarrangements mit alternativen Formen der Leistungsbewertung in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen bis zum Ende der Sek. I zu erproben“, so die wissenschaftliche Begleitung.

Lediglich die Gemeinschaftsschule in Berlin von Jahrgangsstufe 1-10 bzw. 13 kombiniert ähnlich ambitioniert schulstrukturelle und pädagogische Reformen miteinander. In dem Berliner Pilotprojekt konnte die wissenschaftliche Begleitung den Nachweis erbringen, dass die für Deutschland typische enge Kopplung von Herkunft und Bildungserfolg überwunden werden kann.

Wenn das Unternehmen biregio erklärt, dass es stets auch die Vorgaben und Herausforderungen durch die Bildungspolitik auf Landesebene bei seiner Beratungstätigkeit im Blickfeld hat und in seinen Handlungsempfehlungen berücksichtigt, dann trifft diese Behauptung im Fall Viersen sogar den Nagel auf den Kopf.

Die derzeitige schwarz-gelbe Landesregierung verteidigt das tief im ständischen Denken des vorletzten Jahrhunderts verankerte dreigliedrige Schulwesen zusammen mit dem aussondernden Förderschulsystem als angemessenes Angebot für die Vielfalt der Begabungen. Sie hat mit dem PRIMUS-Projekt der rot-grünen Vorgängerregierung nie warm werden können. Gegen ihre Überzeugung hat sie aus wahltaktischen Gründen den Schulversuch verlängert und die Entscheidung über die Zukunft des PRIMUS-Schulversuchs vertagt. Vor Ort gibt es ebenfalls eine starke kommunalpolitische Lobby für die Hauptschule als Eckstein für die Dreigliedrigkeit aus Gymnasium, Realschule und Hauptschule. Sie bekommt mit den Empfehlungen von biregio genau das, was sie hören will, und versteckt sich hinter dem Gefälligkeitsgutachten.

Missachtung demokratischer Spielregeln

Eine so weitreichende schulpolitische Entscheidung gegen die PRIMUS-Schule setzt voraus, dass es eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Schulversuch und seiner wissenschaftlichen Evaluierung in den zuständigen Ratsgremien und in der Öffentlichkeit mit allen beteiligten Akteur:innen gibt. Aber genau das hat die Viersener Schulverwaltung vermieden.

Die Schule sah sich gezwungen, mit einer schulischen Veranstaltung selbst in die Offensive zu gehen, um Verwaltung und Politik über ihre Arbeit zu informieren und mit ihrem Anliegen zu konfrontieren. Obwohl auch das Ministerium, die wissenschaftliche Begleitforschung und Vertreter:innen aus anderen PRIMUS-Schulen anwesend waren, entzogen sich fast alle Kommunalpolitiker:innen der Teilnahme und ihrer Verantwortung als gewählte Mandatsträger:innen.

Dass Schülerinnen und Schüler der PRIMUS-Schule öffentlich für den Erhalt ihrer Schule protestieren, PRIMUS-Schulen der anderen Standorte sich solidarisieren und eine Elterninitiative ein Bürgerbegehren für die Verlängerung des Schulversuchs plant, um sich den Plänen der Stadt entgegenzustellen, ist dagegen gelebte Demokratie.

Verantwortung der Landespolitik

Das Verhalten des Schulträgers ist unakzeptabel und muss korrigiert werden. Mit dem Antrag auf Teilnahme an dem Schulversuch und der Bewilligung durch das Land hat der Schulträger Verantwortung für ein wegweisendes Projekt übernommen. Er hat diese laut Bericht der Wissenschaftlichen Begleitforschung völlig unzureichend wahrgenommen. Wenn er sich jetzt vorzeitig aus dem Projekt „herausstehlen“ will, löst er einen Imageschaden für PRIMUS aus, der weit über Viersen hinaus Wirkung zeigt und zur Verunsicherung und Destabilisierung der anderen PRIMUS-Standorte führen kann.

Vom derzeitigen Schulministerium ist nicht zu erwarten, dass es in den Konflikt um die Zukunft der PRIMUS-Schule zugunsten von PRIMUS eingreift. Anders sind die Erwartungen an die Landespolitiker:innen von SPD und Grünen. Sie haben den Schulversuch öffentlich unterstützt und sich auch für seine Verstetigung ausgesprochen. Nun können sie beweisen, dass dies keine bloße Rhetorik ist, und sich auf kommunalpolitischer Ebene dafür einsetzen. Insbesondere die SPD ist aufgefordert, den offensichtlichen Widerspruch zwischen ihrer Landes- und Kommunalpolitik aufzulösen und ihre politische Glaubwürdigkeit zu beweisen.

Brigitte Schuman   (04/2022)

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