von Brigitte Schumann                     09/2021

Dies geht aus der offiziellen Antwort der Bundesregierung auf die schriftliche Aufforderung von UN-Sonderberichterstattern hervor, sie möge für die sofortige Umschulung einer Schülerin aus der Förderschule in eine inklusive Regelschule Sorge tragen.

Ausgelöst wurde die Intervention von zwei Sonderberichterstattern der Vereinten Nationen mit der Zuständigkeit für das Recht auf Bildung bzw. für die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Petition einer Alleinerziehenden und ihrer Tochter, die einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Recht auf inklusive Bildung durch rheinland-pfälzische Behörden und Gerichte geltend machen.

Der Fall

Die alleinerziehende Mutter fordert auf der schulrechtlichen Basis des vorbehaltlosen Elternwahlrechts in Rheinland-Pfalz eine inklusive Bildung für ihre Tochter in der Grundschule. Sie akzeptiert zwar den Förderbedarf im Bereich der Emotionalen und sozialen Entwicklung, lehnt aber die sonderpädagogische Feststellung eines Förderbedarfs „Lernen“ ab, weil damit in Rheinland-Pfalz kein Regelabschluss erworben werden kann. Daraufhin befindet das Jugendamt, dass eine Fortsetzung der Beschulung in der Grundschule nicht dem Wohl des Kindes entspricht und begründet damit die Einstellung der ein Jahr lang gewährten Integrationshilfe. Trotz des ausgeübten Drucks besteht die Mutter auf zielgleichem Unterricht nach dem Curriculum der Grundschule. Die Tochter schließt die Grundschule mit einer Empfehlung zu einer weiterführenden Schule ohne sonderpädagogischen Förderbedarf ab. In der Sekundarstufe stellt die Realschule plus, eine inklusive Schwerpunktschule, Förderbedarf in den Förderschwerpunkten Emotionale und soziale Entwicklung sowie Lernen fest und hält differenzierende Fördermaßnahmen mit reduzierten Leistungsanforderungen für notwendig. Die Mutter besteht auf zielgleichem Lernen. Sie erkennt nur den sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung an.

Vom Schulkonflikt zum Sorgerechtsentzug

Das Spannungsverhältnis zwischen der Schule und der Sorgeberechtigten verschärft sich, als die Tochter, drei Jahre nur in Teilzeit für jeweils drei Stunden pro Tag unterrichtet wird, da das Jugendamt die Integrationshilfe versagt. Die Lehrerschaft ist sich einig, dass die Mutter mit ihren überhöhten Leistungserwartungen ihr Kind überfordert, und sieht sich nicht in der Lage, die Schülerin angemessen zu unterstützen. Sie hält die Umschulung in eine Förderschule im Interesse des Kindes für erforderlich und bittet das Jugendamt zu überprüfen, ob eine Verletzung des Kindeswohls durch die Weigerung der Mutter, dem Schulwechsel zuzustimmen, vorliegt.

Das Jugendamt beantragt per Eilantrag, der Mutter das Sorgerecht wegen Kindeswohlgefährdung komplett zu entziehen. Das Amtsgericht schließt sich im Hauptsacheverfahren der Bewertung des Jugendamtes an. Mit seiner Entscheidung auf Teilentzug des Sorgerechts und dessen Übertragung auf das Jugendamt macht das Gericht den Weg für die Überweisung der Tochter zur Förderschule frei.

Der Einspruch der Beschwerdeführerin beim Oberlandesgericht bleibt erfolglos. Es übernimmt die Argumentation des Amtsgerichts ungeprüft und weist die Beschwerde der Mutter ohne Anhörung zurück. Der vom Jugendamt eingesetzte Ergänzungspfleger bereitet die Anmeldung zur Förderschule vor.  

Am 26. Juni 2020 reichen Mutter und Tochter eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe ein. Die Beschwerde will geklärt wissen, ob und unter welchen Voraussetzungen Behörden und Gerichte unter Berücksichtigung des Grundgesetzes und der von der Bundesrepublik Deutschland ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention die Annahme einer Kindeswohlgefährdung auf eine Weigerung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung und ihrer sorgeberechtigten Eltern stützen dürfen, die Förderschule zu besuchen.

Die Antwort der Bundesregierung

Auf das Schreiben der Sonderberichterstatter vom 25. Januar 2021 antwortet die Bundesregierung am 5. August 2021. Sie beruft sich auf Informationen, die in ihrem Auftrag das rheinland-pfälzische Ministerium für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung in Kooperation mit dem Landesbeauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen, dem Bildungsministerium, dem Familienministerium und dem Jugendamt zusammengestellt hat. Eine eigene Untersuchung hat sie nicht durchgeführt.

Als gute Nachricht kann sie vermelden, dass im Einvernehmen mit allen Beteiligten mit Beginn des Schuljahres 2021/22 die Tochter wieder eine Realschule plus besuchen wird. Die einzelnen Vorwürfe der Beschwerdeführerinnen werden in minutiösen Ausführungen als unzutreffend korrigiert. Bezogen auf den Hauptvorwurf, dass das Recht auf hochwertige inklusive Bildung mit angemessenen Vorkehrungen verweigert wurde, beruft sie sich auf die Gerichtsurteile. Nicht das Recht auf inklusive Bildung sei in den Gerichtsbeschlüssen in Frage gestellt und verweigert worden, sondern der Mutter sei die Fähigkeit abgesprochen worden, bei der Bildungswahlentscheidung das Wohl ihres Kindes angemessen zu berücksichtigen.  

Die Bundesregierung sieht im Rückblick auf das Verfahren die Beteiligungsrechte der Tochter und ihres Kindeswohls gewährleistet. Wie ist diese Bewertung damit zu vereinbaren, dass die Tochter gegen ihren schriftlich und mündlich bekundeten Willen nach der Übertragung des Sorgerechts auf das Jugendamt an einer Förderschule angemeldet und zum Förderschulbesuch im Schuljahr 2020/21 gezwungen wurde? Ist der Eindruck falsch, dass erst ein „Umdenken“ aufkam, als das Schreiben der UN-Sonderberichterstatter auf dem Tisch lag und politisch die Runde machte? 

Kritische Nachfragen

Auch wenn der Fall bezogen auf die Tochter eine positive Wendung genommen hat, so sind Fragen nach der Rechtmäßigkeit des Sorgerechtsentzugs und des damit verbundenen Eingriffs in die Schullaufbahn der Tochter gegen deren Willen keineswegs durch die Stellungnahme der Bundesregierung befriedigend geklärt.

Der zuständige UN-Fachausschuss CRPD hat in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 4 zum Recht auf inklusive Bildung grundsätzlich festgestellt, dass das Recht auf inklusive Bildung das Recht des Kindes ist, das als Individualrecht unmittelbar umzusetzen ist. Kann das völkerrechtlich normierte Recht des Kindes durch eine gerichtliche Feststellung unwirksam werden, dass Eltern sich angeblich als unfähig erweisen, die richtige Wahl für eine Förderschule zu treffen und mit dem Wunsch nach Inklusion das Kindeswohl gefährden?

Die UN-BRK stellt klar, dass inklusive Bildung dem Kindeswohl entspricht und mit angemessen Vorkehrungen so ausgestaltet werden muss, dass ungeachtet ihrer Unterschiede allen Kindern ein diskriminierungsfreier Zugang zu und gleichberechtigte Teilhabe an inklusiver Bildung ermöglicht wird. Wie kann dann die Wahrnehmung des Rechts auf inklusive Bildung als Kindeswohlgefährdung ausgelegt werden?

Kann die Kürzung des Unterrichts über einen langen Zeitraum wegen versagter Integrationshilfe durch das Jugendamt und mit Wissen der Schulbehörde als Gewährung angemessener Vorkehrungen gelten, um gleichberechtigte und diskriminierungsfreie Teilhabe an inklusiver Bildung zu sichern?  

Hat der Bundesregierung bei ihrer Antwort im Blick, dass die Separierung in Förderschulen aufgrund einer Behinderung gegen das in der UN-BRK normierte völkerrechtliche Diskriminierungsverbot verstößt?

Was steht noch aus?

Der UN-Fachausschuss hat in einem ähnlich gelagerten Fall in Spanien eine Untersuchung vorgenommen. Die Reaktion des Ausschusses auf den Fall in Rheinland-Pfalz ist abzuwarten.   

Die Beschwerde von Mutter und Tochter ist beim Bundesverfassungsgericht anhängig und noch nicht entschieden. Die Monitoring-Stelle am Deutschen Institut für Menschenrechte hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Falles für die Umsetzung der UN-BRK in Deutschland die Notwendigkeit gesehen, sich mit einer Stellungnahme im Rahmen der Verfassungsbeschwerde zu denjenigen aus menschenrechtlicher Sicht erheblichen Aspekten zu äußern, die für die Entscheidung des Falles von wesentlicher Bedeutung sind und die in den Vorinstanzen keine adäquate Berücksichtigung gefunden haben.