Kommunale Spitzenverbände, Lehrergewerkschaften und Elternorganisationen fordern die Landesregierung auf, die Koalitionsvereinbarung umzusetzen und den Rechtsanspruch auf offenen und gebundenen Ganztag im Grundschulbereich mit inhaltlichen Standards im Landesausführungsgesetz rechtsverbindlich abzusichern.

Mit dem Gesetz zur ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter vom 2. Oktober 2021 hat die Bundesregierung den Anspruch auf ganztägige Betreuung rechtlich verankert: Ab August 2026 sollen zunächst alle Kinder der ersten Klassenstufe einen Anspruch darauf haben, ganztägig gefördert zu werden. Der Anspruch soll in den Folgejahren um je eine Klassenstufe ausgeweitet werden, damit ab August 2029 jedes Grundschulkind der Klassenstufen 1 bis 4 einen Anspruch auf ganztägige Betreuung hat. Dieser Rechtsanspruch kann in offenen, teilgebundenen und vollständig gebundenen Ganztagsgrundschulen erfüllt werden. Es liegt in der Verantwortung der Bundesländer, das Bundesgesetz in Landesausführungsgesetze umzusetzen.

An der offenen Ganztagsgrundschule nehmen alle Kinder an den unterrichtlichen Angeboten verpflichtend teil, während die Teilnahme an den außerunterrichtlichen Betreuungsangeboten freiwillig ist. Für Letztere fallen einkommensabhängige Elternbeiträge an, die von den Kommunen in unterschiedlicher Höhe erhoben werden.

Im gebundenen Ganztag sind die Schüler:innen verpflichtet, alle Angebote wahrzunehmen. Damit ist die Trennung von unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Angeboten aufgehoben. Das hat den Vorteil, dass der verlängerte Schultag ohne zusätzliche Kosten für die Eltern im rhythmisierten Wechsel von fachlichem Lernen, Beschäftigung mit selbstgewählten Schwerpunkten und Phasen der Entspannung organisiert werden kann und unabhängig vom Elternhaus mehr Chancen auf Bildung ermöglicht.

Das Versprechen des Koalitionsvertrags

Der sogenannte Zukunftsvertrag, den schwarz-grüne Koalitionär:innen 2022 vereinbart haben, widmet sich ausführlich und detailliert der Umsetzung des Rechtsanspruchs im Primarbereich. Darin bekennt sich das Land zu seiner Verantwortung, die „entwicklungsfördernde“ Qualität des Ganztags als Lebens-Bildungs- und Lernort durch eine schulrechtliche Verankerung des Rechtsanspruchs im Landesausführungsgesetz zu stärken.

Das Finanzierungsversprechen lautet: „Das geplante Ausführungsgesetz wird neben inhaltlich-pädagogischen Aspekten außerdem die für die Kommunen besonders relevante Finanzierung im Rahmen des geltenden Konnexitätsprinzips regeln. Förderrichtlinien gestalten wir so handhabbar und unkompliziert wie möglich, um den Kommunen die Möglichkeit zu geben, die Mittel entsprechend lokaler Voraussetzungen zu investieren.“ Das ist die Zusage, dass bei der Umsetzung des Rechtsanspruchs durch die Kommunen das Land als Auftraggeber seine Zuständigkeit für die Finanzierung anerkennt.

Zur Qualitätsoffensive im Ganztag gehören laut Koalitionsvertrag Mindeststandards für die Beschäftigung der Fachkräfte und der multiprofessionellen Teams in enger Abstimmung mit den Schul- und Jugendhilfeträgern, die Ausweitung der Ressourcen, kreative Raumlösungen, Poollösungen für Schulbegleitungen. Als Ziele werden die Rhythmisierung der Angebote in der offenen Ganztagsschule und die inklusive Förderung genannt. Der gebundene Ganztag wird mit der schnörkellosen Formulierung in Aussicht gestellt: „Wir wollen den Grundschulen den Gebundenen Ganztag ermöglichen.“

Positionspapier der kommunalen Spitzenverbände

2023 haben der Städtetag NRW, der Städte- und Gemeindebund NRW sowie der Landkreistag NRW in einem gemeinsamen Positionspapier mit Verweis auf den Koalitionsvertrag ihre Erwartungen an die Umsetzung des Rechtsanspruchs formuliert: „NRW muss die Neuregelung des Ganztages als bildungspolitische Chance nutzen und daher zwingend die pädagogische sowie qualitative Ausführung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsförderung im Grundschulalter im Schulgesetz verankern“, lautet die zentrale Forderung. 

Die organisatorische, personelle und finanzielle Verantwortung für den Rechtsanspruch auf Ganztag müsse beim Land liegen, damit gleiche Bedingungen für die Ausgestaltung des Ganztages in NRW ermöglicht werden und nicht die Kassenlage der Kommunen darüber entscheidet. Angemahnt wird, mit den Kommunen als örtliche Jugendhilfe- und Schulträger „Arbeitsprozesse auf Augenhöhe und in gemeinsamer Vereinbarung endlich zu gestalten“.

Ausdrücklich hervorgehoben wird die Forderung nach einem gebundenen Ganztag im Primarbereich, „wenn es dem Wunsch der örtlichen Gemeinschaft entspricht“. „Angebote des gebundenen Ganztages müssen sozialraumorientiert ermöglicht und bedarfsgerecht ausgebaut werden“, heißt es weiter.

Auch die Bildungsbeigeordneten und Bildungsdezernent:innen der Metropole Ruhr hatten bereits 2019 in ihrem Positionspapier zur ganztägigen Förderung von Kindern in der Primarstufe die Forderung erhoben, für Schulen in Quartieren mit sozio-ökonomischen Problemlagen perspektivisch die Einführung des gebundenen Ganztags anzustreben.

Die Beschlusslage der Regierung

Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat mit dem Kabinettsbeschluss vom 5. März 2024 ihr Koalitionsversprechen nicht eingehalten. Sie übernimmt nicht die rechtliche Verantwortung für die organisatorische, personelle, und finanzielle Ausgestaltung des Rechtsanspruchs. Statt eines Ausführungsgesetzes mit klar formulierten Standards hat sie nur „Fachliche Grundlagen zur Umsetzung des Rechtsanspruches auf Ganztagsförderung für Kinder im Grundschulalter ab 2026“ vorgelegt, die sie als Leitlinien für die Umsetzung versteht.   

Danach soll lediglich die Offene Ganztagsschule (OGS) als kooperatives Trägermodell in der Zusammenarbeit von Grundschulen und freien und öffentlichen Trägern der Jugendhilfe sowie weiteren Trägern und außerschulischen Partnern weitergeführt und ausgebaut werden. Die Finanzierungssystematik der OGS soll weiterhin auf Förderungen des Landes, der Kommunen und Beiträgen der Eltern basieren. Ab 2026 treten aufwachsende Beiträge des Bundes zu den Betriebskosten hinzu. Die Regelungen der Umsetzung des Rechtsanspruchs auf ganztägige Förderung sollen auf ihre Wirkung regelmäßig überprüft werden.

Gemeinsamer Aufruf für den gebundenen Ganztag

Ein Bündnis aus Lehrer-, Eltern- und Kommunalverbänden will sich damit nicht abfinden und erklärte im März in einem gemeinsamen Aufruf: „Wir sind der Überzeugung: NRW darf die Möglichkeit zur Neuausrichtung der Ganztagsförderung nicht ungenutzt verstreichen lassen. Das Land NRW sollte die Neuregelung des Ganztags als bildungspolitische Chance nutzen. Derzeit sind mehr als 90 Prozent der Grundschulen in NRW offene Ganztagsgrundschulen. Der gebundene Ganztag findet an den Grundschulen in NRW aktuell fast nicht statt, obwohl Bedarfe vorhanden sind.“

Der gebundene Ganztag solle im Schulgesetz verankert werden, damit eine rechtssichere Beantragung dieser Organisationsform möglich ist. Durch die Verankerung im Schulgesetz bestehe zudem die Möglichkeit, die Verzahnung zwischen Schule und Ganztag auch im Sinne der Beschäftigten zu regeln und ihre Arbeitsbedingungen mit einheitlichen Mindeststandards zu verbessern. Der drohende Fachkräftemangel im offenen Ganztag sei auch der Tatsache geschuldet, dass in der bisherigen Ausgestaltung keine existenzsichernden Arbeitsplätze entstehen können.

Pädagogische Vorzüge des gebundenen Ganztags

Der Aufruf begründet seine Forderung nach einem gebundenen bedarfsgerechten Ganztag mit den „ernüchternden Ergebnisse[n] des aktuellen IQB-Bildungstrends sowie der PISA-Studie“. Der gebundene Ganztag ermögliche „mehr Zeit zum Lernen, mehr Zeit für individuelle Unterstützung von Kindern, ein gutes Mittagessen, ein ganzheitliches Konzept zur Förderung der sozialen Entwicklung, die Integration von Sport und kultureller Bildung: Das sollten wir uns als Land leisten. Für die Zukunft unserer Kinder. Und die Zukunft unseres Landes.“

Der Aufruf mündet in die Forderungen, im Sinne des Koalitionsvertrags den Ganztag schulrechtlich zu verankern und dabei „nicht nur die offene Form des Ganztags zu regeln, sondern auch die rechtlichen Voraussetzungen für die Möglichkeit zur Einführung eines gebundenen Ganztags mit verlässlichen Schulkonzepten und verbindlichen multiprofessionellen Personalstandards zu schaffen, den Elternwillen zu berücksichtigen und überall dort, wo das Einvernehmen der Schulgemeinschaft vorliegt, Grundschulen des gebundenen Ganztags einzurichten“.

Neusser-Erklärung des Städtetages NRW

Auf seiner Mitgliederversammlung in Neuss hat der Städtetag NRW am 8. Mai mit einer zugespitzten Erklärung nachgelegt: „Seit Jahren schneidet NRW bei Bildungsstudien unterdurchschnittlich ab. Unsere Kinder verdienen Besseres. Sonntagsreden sind genug gehalten. Wir brauchen einen bildungspolitischen Neustart. Dazu gehört in NRW, dass das Land die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztag an Grundschulen endlich als bildungspolitische Chance begreift. Die Städte wollen den Ganztag aktiv gestalten, für mehr Bildungsgerechtigkeit. Dafür muss das Land mit einem Ausführungsgesetz eine klare rechtliche Grundlage schaffen und dabei im Schulgesetz den rhythmisierten Ganztag als Regelangebot verankern.“

Das Land müsse die Mittel bereitstellen und die Reform der Schulfinanzierung zügig vorantreiben. Der Vorstand des Städtetages hat für den Fall, dass keine entsprechenden Zusagen des Landes getroffen werden, den Beschluss gefasst, die Einleitung rechtlicher Schritte zu prüfen.

Die Debattenlage im Landtag

Schulministerin Dorothee Feller (CDU) hat in einer Sondersitzung des Schulausschusses am 15.03. den Bruch mit der Koalitionsvereinbarung als „Zwischenschritt“ verteidigt, ohne jedoch zu verdeutlichen, was denn danach kommen soll. Sie begründet die groben Leitlinien damit, dass keine unerfüllbaren Standards gesetzt werden sollen. Die Opposition attackiert den Strategiewechsel als „Schmalspurlösung“ und „Kapitulation“ vor den großen bildungspolitischen Herausforderungen. Die Grünen als Koalitionspartner halten sich in der politischen Auseinandersetzung bedeckt. 

Wenn die Schulministerin meint, dass derzeitige Modell des offenen Ganztags habe sich bewährt und es bedürfe keines gebundenen Ganztags, dann sollte man ihr vor Augen halten, dass zwar mehr als jedes vierte der 628 Gymnasien in NRW heute eine gebundene Ganztagsschule ist, aber von den 2.800 Grundschulen lediglich 14 über einen gebundenen Ganztag verfügen.

Ausblick

Wenn es der Regierung ernst damit ist, die Basiskompetenzen der Grundschulkinder in sozialen Problemlagen zu stärken, dann muss sie – um ihrer Glaubwürdigkeit willen – nachweislich alle Anstrengungen unternehmen, ihre bildungspolitischen Prioritäten in Übereinstimmung mit dem Koalitionsvertrag an dem Bedarf der Grundschulen auszurichten. Sie sind im Übrigen im Vergleich mit anderen Bundesländern – trotz des Anstiegs der Armutsquoten bei Kindern, die in NRW über dem Bundesdurchschnitt liegen – deutlich unterfinanziert.

Brigitte Schumann                    Juni 2024