Mit ihrer „Streitschrift“ wollen drei ehemalige Schulaufsichtsbeamte und derzeitige Funktionäre im Verband Sonderpädagogik e.V. (vds) den Diskurs über die Abschaffung des Förderschwerpunktes Lernen und des „segregierenden allgemeinen Schulsystems zugunsten einer Schule für alle“ anregen. Aber der vds weiß dies zu verhindern.

Die Autoren Reinhard Leben, Peter Rieger und Michael Röder begründen in pointiert formulierten Thesen unter dem Titel „Ist der Förderschwerpunkt Lernen noch zeitgemäß?“ (Heft 2/2021 der Verbandszeitschrift Sonderpädagogische Förderung in NRW) die Notwendigkeit, das sonderpädagogische System der Diagnostik und Kategorisierung zu beenden. Sie können dabei auf wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreifen, die dem Förderschwerpunkt Lernen die bildungspolitische Legitimation absprechen. Um inklusive Schulentwicklung zu ermöglichen, fordern sie auch die „Auflösung des segregierenden allgemeinen Schulsystems zugunsten einer Schule für alle“.

Bestandsaufnahme

Die Autoren der „Streitschrift“ stellen fest: Der aus „Lernbehinderung“ abgeleitete Förderschwerpunkt Lernen ist eine wissenschaftlich nicht begründbare Konstruktion, wird aber immer noch für „bildungsrelevante Entscheidungen“ herangezogen. Die sonderpädagogische Diagnostik mit ihren gebräuchlichen Testverfahren verfügt über keine validen Kriterien zur Feststellung des Förderschwerpunktes. Daher sind Schüler:innen mit diagnostiziertem Förderschwerpunkt Lernen nicht von Schüler:innen mit schwachen Schulleistungen in allgemeinen Schulen zu unterscheiden. Die Ursachen für Schulversagen sind weniger in Intelligenzschwäche zu suchen, sondern werden durch sozioökonomische und soziokulturelle Faktoren bestimmt. Auch „ungeeignete Unterrichtskonzepte führen zu Förderbedarf“. Die vermeintliche „Lernbehinderung“ der als beeinträchtigt diagnostizierten Schüler:innen wird durch reduzierte Leistungsanforderungen und eingeschränkte Bildungsangebote reproduziert.

Überwindung systemerhaltender Mechanismen der Ausgrenzung

Die Autoren sehen im Zusammenspiel von allgemeiner Schule und Förderschule systemerhaltende Mechanismen der Ausgrenzung. „Die Suche nach Ressourcen fördert die Kategorisierung.“ Häufig nutzen allgemeine Schulen die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs lediglich für die Gewinnung zusätzlicher personeller Ressourcen, ohne ein Konzept verbesserter individueller Förderung für alle von Schulversagen betroffenen Schüler:innen zu entwickeln. Das Interesse der allgemeinen Schule, insbesondere in der Sekundarstufe I Schüler:innen über die Zuweisung des Förderschwerpunktes Lernen abzugeben, kommt wiederum dem Interesse der Förderschule an ihrem institutionellen Erhalt entgegen. Die Autoren stellen fest, dass das System der Ausgrenzung sich auch im Gemeinsamen Lernen fortsetzt. Bestehende ausgrenzende Strukturen sind nicht mit inklusiver Schulentwicklung, Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit vereinbar und müssen zugunsten einer Schule für alle überwunden werden.

Radikalität der „Streitschrift“

Die Forderungen der Autoren sind in mehrfacher Hinsicht radikal und für den Verband herausfordernd. Mit der „Vision“ einer Schule für alle wird eine pädagogische Reform- und Strukturperspektive angedacht und angeregt, die mit einem traditionellen Denkmuster innerhalb der Sonderpädagogik und des Verbandes bricht.

Seit den Anfängen des Verbandes begründet die Sonderpädagogik die Unverzichtbarkeit des Förderschulsystems mit der Kritik an dem bestehenden allgemeinen Schulsystem. Sieglind Ellger-Rüttgardt, ehemalige Professorin für Lernbehindertenpädagogik, benutzt eben dieses Denkmuster zur Abwehr von Kritik an der Sonderpädagogik und zum Erhalt sonderpädagogischer Institutionen, wenn sie in der Verbandszeitschrift erklärt: „Angesichts der offensichtlichen Strukturschwäche unseres Schulsystems […] wäre es sicherlich naiv und fahrlässig besondere Schulformen vorschnell aufzugeben.“

Die Autoren fordern explizit zwar nur die Abschaffung des Förderschwerpunktes Lernen zugunsten einer Schule für alle. Aber wenn der größte Förderschwerpunkt fällt, der bundesweit einen Anteil von ca. 35 % an allen Förderschwerpunkten stellt, dann bricht der wichtigste Baustein des sonderpädagogischen Systems weg und könnte das Gesamtsystem zum Einsturz bringen.

Abwehrreaktion der Sonderpädagogik

Nach der Veröffentlichung der „Streitschrift“ in der nordrhein-westfälischen Verbandszeitschrift wird Anfang 2022 eben dort die „Replik zur Streitschrift“ von Michael Grosche, Professor für schulische Sonderpädagogik und Inklusion mit dem Schwerpunkt Lernen (Heft 1/2022 der Verbandszeitschrift Sonderpädagogische Förderung in NRW) und seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Gunnar Bruns veröffentlicht.

Wohlwollend im Ton begrüßen sie vordergründig den Vorstoß der Autoren. „Wir halten den Diskurs über die Legitimation des Förderschwerpunktes Lernen, der so alt wie unser Fach ist, für überaus wichtig.“ Sie konzedieren auch, dass der Förderschwerpunkt Lernen – ebenso wie sein Synonym „Lernbehinderung“ – „seit jeher einer präzisen und eindeutigen wissenschaftlichen Grundlage entbehrt“, weil er „ein rein schulorganisatorischer Begriff“ ist. Aber der Forderung nach Abschaffung des Förderschwerpunktes Lernen erteilen sie eine klare Absage. Mit der Abschaffung würde „das Kind mit dem Bade ausgeschüttet“. Die Lösung für die „definitorische Unschärfe“ des Begriffs und der daraus resultierenden diagnostischen Problematik liegt für sie in einer präziseren und eindeutigeren Definition des Förderschwerpunktes. Auf die Forderung nach einer Schule für alle gehen sie erst gar nicht ein.

Sie schlagen vor, dass der Förderschwerpunkt Lernen in Zukunft ohne die personenbezogene Bewertung, die mit dem Etikett der „Lernbehinderung“ verbunden ist, „recht simpel, beschreibend und rein symptombezogen“ schwache Schulleistungen erfasst. Folgt man dem Lösungsvorschlag, so die Wissenschaftler, „wären es der Unterricht und die pädagogische Interaktion mit Schüler*innen mit schwachen Schulleistungen, womit sich der Förderschwerpunkt Lernen als praktische Profession und wissenschaftliche Disziplin beschäftigt“. Eine präzise wissenschaftliche Begründung und Operationalisierung der vorgeschlagenen Definition wäre allerdings ebenso erforderlich wie das Aushandeln der Grenze, wann man von einem Förderschwerpunkt Lernen sprechen will.

Reaktion des vds: Blockieren und verschweigen

2022 veröffentlicht der vds NRW auch sein Positionspapier „Zukunftsaufgaben sonderpädagogischer Unterstützungssysteme in Nordrhein-Westfalen“. Die Auseinandersetzung mit den Forderungen der „Streitschrift“ findet dort nicht statt. Dagegen wird die Notwendigkeit einer präzisen Definition des Förderschwerpunktes Lernen und dem damit verbunden Bildungsgang Lernen im Sinne von Grosche und Bruns als Petitum herausgestellt. „Es braucht eine stärkere Konturierung des Bildungsgangs Lernen. Das betrifft klare diagnostische Kriterien und Prozessstandards, nach denen entschieden wird, wann eine zieldifferente Unterstützung notwendig wird“, so der Landesverband NRW.

Auch der vds Bundesfachkongress am 23.und 24. 09. 2022 in Bad Sassendorf unter dem Motto „Die Segel neu setzen – Professionelle Bildung, Beratung und Unterstützung“ verschweigt den Diskurs der „Streitschrift“, obwohl der Förderschwerpunkt Lernen das Kongressthema ist. Als Anknüpfungspunkt für das Kongressthema werden dagegen die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) von 2019 hervorgehoben.

Die Bedeutung der KMK – Empfehlungen für den vds

Die 2019 beschlossenen „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Bildung, Beratung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Lernen“ ersetzen die Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Lernen von 1999. Sie nehmen Bezug auf die aus der UN-Behindertenrechtskonvention abgeleiteten Verpflichtungen. Sie bestätigen die Sonderpädagogik mit der „Vielfalt von Lernorten und Organisationsformen“ und der Fülle von Arbeitsaufträgen für Bildung, Beratung und Unterstützung in der allgemeinen Schule. Das schließt die Beratung der allgemeinen Lehrkräfte ein.

Die KMK geht davon aus, dass es durch „frühzeitige und präventiv wirkende sonderpädagogische Bildungs- Beratungs- und Unterstützungsangebote“ gelingt, „grundlegende Bereiche der Lernentwicklung von Kindern und Jugendlichen so zu stärken, dass eine ihren Voraussetzungen entsprechende schulische Bildung möglich wird“. Damit gehört auch die frühzeitige Erfassung und wirksame Förderung aller Schülerinnen und Schüler mit Leistungsproblemen zum Aufgabenbereich der Sonderpädagogik. Grosche und Bruns knüpfen in ihrer Replik auf die „Streitschrift“ genau daran an, wenn sie feststellen, dass sich zukünftig der Förderschwerpunkt Lernen mit dem Unterricht und der pädagogischen Interaktion mit Schülerinnen und Schülern mit schwachen Schulleistungen beschäftigt.

Die KMK hält unbeirrt an dem Förderschwerpunkt Lernen fest, auch wenn sie nicht zuletzt aufgrund öffentlicher Kritik an der Willkürlichkeit sonderpädagogischer Diagnostik einräumt, dass die Übergänge zwischen einem diagnostizierten Förderbedarf Lernen und schulischem Leistungsversagen fließend sein können. Als Antwort auf die Kritik hält sie eine „diagnostische Abgrenzung des Bedarfs an sonderpädagogischen Bildungs- Beratungs- und Unterstützungsangeboten im Schwerpunkt Lernen zu Schülerinnen und Schülern, die aufgrund ihrer Lernvoraussetzungen grundsätzlich den allgemeinen Leistungsanforderungen und Standards gerecht werden könnten“, für erforderlich, „weil sich der Schwerpunkt Lernen nicht allein durch gravierend unzureichende Schulleistungen bezogen auf die Anforderungen der jeweiligen Curricula begründet“.

„Wasserdichte“ Feststellungsverfahren

Wie die Ermittlung des sonderpädagogischen Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsbedarfs im Schwerpunkt Lernen durchgeführt werden soll, dazu verhalten sich die Empfehlungen unbestimmt.

Der Verband und die in ihm organisierte sonderpädagogische Wissenschaft und Profession werden zukünftig ihre zentrale Aufgabe darin sehen, die „definitorische Unschärfe“ des Förderschwerpunktes Lernen durch die Anwendung wissenschaftlicher Kriterien und Methoden zu „beheben“. Dazu ein Beispiel aus dem Bereich der Fortbildung für hessische Förderlehrkräfte: Dort werden Fortbildungsveranstaltungen zur „kriteriengeleiteten Intelligenzdiagnostik“ angeboten und längst in die Kritik geratene IQ-Testverfahren als aussagekräftige Messinstrumente für die Bestimmung des Förderschwerpunkts Lernen „geadelt“.

Der Förderschwerpunkt Lernen muss aus Sicht des vds unbedingt erhalten bleiben. Wenn der größte Förderschwerpunkt fällt, dann ist das gesamte Förderschulsystem, das der Verband im Schulterschluss mit der KMK nach 1945 ausgebaut und gegen alle Reformbemühungen bislang erhalten hat, in Gefahr.

Brigitte Schumann            (10/2022)